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Samstag, Februar 16, 2002
Historische Fragen
RAF und Nazi-Mitläufer im Wettbewerb Von Günter H. Jekubzik Kein nationales Filmfestival weltweit beschäftigt sich derart mit seiner eigenen Geschichte wie die Berlinale. Es ist - fast in Sichtweite des Reichstages und vieler anderer historischer Stätten - auch tatsächlich naheliegend, über Judenverfolgung, Krieg, Anpassung oder Widerstand filmisch nachzudenken. Im Finale der 52.Berlinale gab es historische Fragen in großartiger und unsäglicher Form Der renommierte Regisseur Istvan Szabó beschäftigt sich in "Taking Sides" mit dem "Fall Furtwängler": Prachtvolle Musik erklingt im Berliner Dom. Der Dirigent Dr. Furtwängler lässt selbst bei Bombenalarm weiter spielen. In der nächsten Szene wird unter amerikanischen Offizieren abgesprochen, dass ein Exempel an diesem Prominenten statuiert werden soll. Szabó kommt schnell zur Sache. Sein Ankläger, Major Arnold (Harvey Keitel auch als Gast in Berlin), ist der Meinung, alle Deutschen waren Nazis, man muss es ihnen austreiben. Dementsprechend hart geht er mit dem Künstler ins Gericht, der von allen anderen verehrt, ja angehimmelt wird. Die Russen wollen ihn sogar gegen ein ganzes Orchester eintauschen. Doch im Zentrum von Arnolds Untersuchung steht die Frage, wie konnte ein Mensch in diesem Deutschland bleiben, wie konnte man für die Nazi spielen. Die Frage nach Kunst oder Politik, beziehungsweise, ist Kunst unabhängig von Politik denkbar und moralisch vertretbar, wird in den Verhören und Diskussionen spannend dramatisiert. Szabó erfasst die Spannweite von Verführung durch die Macht bis zur Naivität einer selbstzentrierten Kunst, die beispielsweise auch Klaus Theweleit in seiner Analyse Gottfried Benns aufzeigt. Es bleibt ein 'Aber'. Egal von welcher Position aus man startet, es bleiben Fragen offen. Mit ''offenen Fragen" versuchte ein anderer Film seine Geschichtslosigkeit zu verstecken. "Baader" ist ein handwerklich gut gemachtes, gut gespieltes hirn- und historienloses Machwerk, das RAF-Geschichte ausbeutet, um einer auf Popkultur getrimmten Räuberballade Gewicht zu geben. Frank Giering ist als RAF-Terrorist Andreas Baader dabei cool, unverschämt, rücksichtslos. So ein richtig klasse Filmtyp wie Belmondo oder Eastwood - wäre da nicht noch eine andere Geschichte. Die Kultfiguren von Regisseur Roth gefallen sich im lasziven Labern, scharfes Analysieren, das der RAF eigen war, wäre wohl uncool. Die von jeder Historizität abgehobene Räuberballade setzt ihrer Unverfrorenheit im Finale die Krone auf, da wird Andreas Baader bei einer Verhaftung erschossen. Soll dies ein Statement zum ungeklärten (Selbst-) Mord von Baader und Mitinhaftierten in Stammheim sein? Fraglich blieb beim tosenden Buh-Konzert im Berlinale-Palast jedenfalls nichts mehr. Nur durch rasches Abtreten konnte der Filmemacher einen Tumult verhindern. Dass Robert Stadlober, das überschätzte und eingebildete Jungsternchen aus "Crazy" als Moderator den Film verteidigen wollte, zeigt die Un-Reife dieses ärgerlichen deutschen Filmchens.
Fulltime Killer (Johnnie To und Wai Ka-Fai, Hong Kong 2001)
Forum Seit mehreren Jahren schon ist der Hong-Kong-Film nicht mehr, was er einmal war, nämlich höchst eigenwilliges und formal innovatives Actionkino, das aufregendste der Welt. Die alten Helden, von John Woo bis Tsui Hark, sind nach Hollywood gegangen, haben in der Heimat Lücken gerissen, ohne die Hoffnungen, die man in sie gesetzt hat, so recht zu erfüllen. Hong Kong ist unterdessen im Mittelmaß versunken, mit der einen oder anderen gelegentlichen und einer großen, erstaunlichen Ausnahme: Johnnie To. To ist ein Veteran, der seinen ersten Film schon 1979 drehte, und in den glanzvollen Jahren Hong-Kongs fiel er nicht weiter auf. Umso verblüffender die Entwicklung, die er seit 1994 nahm. Er gründete die Produktionsgesellschaft Milkyway und dreht seither Jahr für Jahr, meist mit seinem Mitstreiter Wai Ka-Fai, die schönsten Filme, die aus Hong Kong kommen, die bisherigen Höhepunkte: "The Mission" von 1999, die atemberaubende Gangsterballade, mit der er auch im Westen berühmt wurde und "Running Out of Time" aus demselben Jahr, in dem, wie auch in "Fulltime Killer", Andy Lau, in seiner Heimat ein Superstar, die Hauptrolle spielt. In den herausragenden Filmen Johnnie Tos findet sich stets beides. Einerseits der oft sehr selbstreferenzielle Bezug auf die jüngste Geschichte des Hong-Kong-Films, die Perfektionierung und Übersteigerung jener Actionballett-Choreografien, die als reine und kinetische Form des Kinos weltweit ihre Fans gefunden haben. Und andererseits wagt To die ungewöhnlichsten Durchkreuzungen und Hybridisierungen der mittlerweile zu Klischee und Konvention erstarrten Formen. In "The Mission" etwa inszenierte er einen beinahe statischen Shootout, ein Action-Ballett des fast totalen Stillstands. Auch das jüngste Werk, "Fulltime Killer", ist ein Ausbruch aus dem Genre, das als vielfach ausgebeulte Struktur dennoch zugrunde liegt. Es handelt sich um die, vor allem von John Woo, immer wieder erzählte Geschichte zweier Männer, die Freunde sein könnten und dennoch darauf aus sein müssen, sich zu töten. Hier: der Japaner O, der angesehenste und bestbezahlte Killer im gesamten asiatischen Raum, durch den der Film denn auch, als wäre es ein Bond, in großem Tempo springt, von Singapur nach Macau, von Tokio nach Hong Kong. Die Sprachenverwirrung ist entsprechend babylonisch, es dürfte sich um den ersten Hong-Kong-Film handeln, in dem mehr japanisch als kantonesisch, daneben aber auch jede Menge englisch, gesprochen wird. Die gewohnten Action-Choreografien gibt es in "Fulltime Killer" in vergleichsweise geringem Maß. Wenn jedoch Tok, der übermütige Herausforderer, tötet, dann macht Johnnie To daraus - und gewiss nicht ohne Ironie - die ganz große Oper, im wörtlichen Sinne. Er unterlegt die triumphalen Massaker mit Ausschnitten aus europäischen Opern, das steigert sich bis zu "Freude schöner Götterfunken" beim letzten dieser Auftritte, der, das versteht sich von selbst, zum Duell der beiden Kontrahenten wird. Zwischen diesen großen Szenen aber gibt es ganz ungewöhnlich viel Charakterentwicklung, dazu eine Liebesgeschichte, bei der eine Frau zwischen den beiden Männern steht. Es gibt das interessante Spiel mit Maskierungen und die notwendige Ergänzung des Duells zum Dreikampf mit dem Polizisten, der jedoch über weite Strecken im Hintergrund bleibt. Das Erstaunlichste an "Fulltime Killer", der nach einem Bestseller des Autors Edward Pang entstand, ist jedoch sein Ende, das in einer nicht aufgelösten Doppelung offen bleibt. Der Polizist, der nach der wundersam gelungenen Flucht der beiden Killer frustriert seinen Job aufgegeben hat, schreibt nun ihre Geschichte. Was ihm fehlt, ist ein richtiges Ende. Da taucht Chin, die Frau zwischen Tok und O, bei ihm auf, erzählt ihm, was sich nach der Flucht zugetragen hat. Den Ausgang des Duells aber sehen wir doppelt: einmal siegt Tok, einmal O. Was wirklich geschehen ist, erfahren wir nicht, der Film verweigert ironisch den konventionellen, eindeutigen Abschluss. Das ist ein Flirt des Hong-Kong-Action-Kinos mit dem Kunstfilm, wie man ihn so noch nicht gesehen hat. Die Puristen wird das vielleicht nicht freuen, für alle anderen erweist sich Johnnie To mit "Fulltime Killer" ein weiteres Mal als der im Moment aufregendste Regisseur Hong Kongs. Freitag, Februar 15, 2002
Bad Guy (Kim Ki-duk, Korea 2001)
Wettbewerb Nimmt man Kim Ki-duks Film "Bad Guy“ auf der schlichten Plot-Ebene, wird allein die Erzählung jede aufrechte Feministin - zu Recht - auf die Palme treiben. Han-ki, ein kleiner Gangster und Zuhälter, begegnet auf der Straße der jungen Kunst-Studentin Son-hwa. Als er sie mit Blicken bedrängt, wendet sie sich angeekelt ab. Er rächt sich durch einen langen, brutalen Kuss; als ihn die herbeigeeilte Polizei von Son-hwa losgezerrt hat, spuckt sie ihm ins Gesicht. Um Rache zu nehmen zwingt Han-ki die Studentin (mit einer hinterhältigen Intrige, die der Film nur andeutet) in die Prostitution. Das Bordellzimmer hat einen Spiegel, durch den er sie beobachtet, nach und nach wird Son-hwa gefügiger, es entwickelt sich eine, wenngleich seltsame Liebe zwischen den beiden. Eine Liebesgeschichte mit Widerhaken hatte Kim Ki-duk bereits in seinem derzeit durch die deutschen Programmkinos reisenden "The Isle“ erzählt und auch da schon die Gemüter durch die politisch wenig korrekte Darstellung einer gegenseitigen Abhängigkeit erregt. Beide Filme aber funktionieren nicht, auf jeden Fall nicht primär, innerhalb der Konventionen des Realismus. Die doppelte Demütigung des Beginns – der aufgezwungene Kuss, das Angespuckt-Werden – schürzt den Knoten für alles weitere. Liebe und Hass, Ekel und Zärtlichkeit sind im Verhältnis von Han-ki und Son-hwa ganz unentwirrbar ineinander gemischt. In einer ihrer ersten gemeinsamen Szenen im Bordell streichelt er sie, während sie schläft, sie erwacht und kotzt ihm auf die Schulter. Zumeist kommt es jedoch nicht zur direkten Begegnung der beiden: der Spiegel trennt die beiden und wird zum Symbol der Asymmetrie der Beziehung, nach und nach aber auch der Annäherung. Han-ki, der Voyeur, eilt zur Hilfe, wenn die Kunden gewalttätig werden – und doch vergewaltigt er sie später selbst -, er küsst sie (ohne dass sie es weiß), als sie ihr Gesicht an den Spiegel presst. Er scheint zwischen Schuldbewusstsein und dem Wunsch zur Forsetzung seiner Rache zu schwanken. Was wirklich in ihm vorgeht, erfahren wir nicht: Han-ki, der eine vernarbte Schnittwunde am Hals hat, ist, mit der Ausnahme einer einzigen, mit eunuchenhafter Stimme gesprochenen Dialogzeile am Ende, sprachlos. Und diese Sprachlosigkeit ist ihm wie dem Zuschauer eine Qual, ausdrucksvolles Mittel der Ambivalenz der Figur, deren Motive und Gefühle bis zuletzt rätselhaft bleiben. Das Milieu Han-kis, in das Son-hwa verschleppt wurde, ist von barbarischen Gewaltausbrüchen geprägt. Mehrfach werden den Charakteren zugespitzte Gegenstände in den Leib gerammt, es gibt Schlägereien und Morde. Andererseits insistiert der Film auf Momenten der Zärtlichkeit. Den Wunsch, das Phantasma der möglichen Aufhebung der Trennung wird hinübergespiegelt auf eine surreale Ebene. Bei einem gemeinsamen Ausflug an den Strand findet Son-hwa Fragmente einer Fotografie im Sand, ein Paar, nur die Köpfe fehlen. Diese Fotografie ist nichts als Wunsch oder Alptraum, Son-hwa klebt die Bilder auf den Spiegel, Kim Ki-duk montiert durch die Wahl der Kameraperspektive ihren und Han-kis Kopf hinein. Tatsächlich werden die beiden am Ende zueinanderfinden, die Fotografie scheint Wahrheit zu werden. Der Film spielt mehrere Versionen durch, vom Verzicht über die glückliche Beziehung – bis dann zur Zweisamkeit, die die ursprüngliche Struktur perpetuiert. Die beiden fahren mit einem zum Bordell umgebauten Kleinlaster durch die Gegend, Han-ki fungiert weiterhin als Zuhälter. Man sollte freilich dieser Auflösung ebenso misstrauen wie allen eindeutigen Interpretationen der Geschichte. Kim Ki-duk ist ein Regisseur, der stets der tiefen Ambivalenz den Vorzug gibt – und diese vor allem in Bilder von rätselhafter Kraft einzutragen versteht. Es ist nicht schwer, mit den besten moralischen Gründen die Auseinandersetzung mit "Bad Guy" zu verweigern. Wer das tut bringt sich aber um eine Verstörung, die sich lohnt. Kim Ki-duks neuer Film besitzt nicht die Geschlossenheit des Entwurfs, die "The Isle" zum Meisterwerk gemacht hat. Eine Herausforderung, die die Mehrzahl der gut gemeinten Wettbewerbsbeiträge überragt, ist er allemal.
Baader (Christopher Roth, Deutschland 2002)
Wettbewerb Jeden Anspruch auf dokumentarischen Gehalt des Gezeigten zu konterkarieren, indem man das wohl bekannte Ende der Geschichte historisch verfälscht und gleich noch aus dem Hollywood-Western der Zeit (von "Bonnie und Clyde" bis zu "Zwei Banditen") nach Deutschland zitiert, das ist immerhin eine Idee, Christopher Roth hatte sie schon im voraus vehement verteidigt - und in der Theorie macht sie erst mal auch Sinn. Hat man "Baader" dann aber gesehen, ist man der Reihe von quasi-dokumentarischen, wenngleich nicht sklavischen Nach-Inszenierungen der Wirklichkeit gefolgt bis zum gleichfalls fiktiven Treffen Andreas Baaders mit dem BKA-Chef Kurt Krone (der eine auffällige Ähnlichkeit mit dem realen Horst Herold hat) und der schließlichen Erschießung des Terroristen, dann wird man sich mit der auch in der Pressekonferenz wie ein Mantra wiederholten Erklärung nicht begnügen wollen. Denn wenn nicht um die historische Wahrheit, dann muss es ja um etwas anderes gehen. Mit dem Mythos Baader, meinte Drehbuchkoautor Moritz von Uslar, habe man sich auseinandersetzen wollen, mit dem Faszinosum, das er für seine Anhänger gewesen ist. Nur, leider: davon ist nichts zu sehen. Weder wird der Mythos demontiert noch wird ihm ein Gegen-Mythos entgegengestellt, weder gibt es eine irgendwie originelle Neu-Beschreibung der Gruppendynamik noch den Versuch, Baader als ambivalente Figur einleuchtend zu machen. Es reicht einfach nicht, das macht der Film ganz unfreiwillig überdeutlich, die vermeintliche Coolness Baaders zum Ausgangspunkt einer mit dem Historischen flirtenden Erzählung zu machen – und damit der Lifestyle-Welle der letzten Jahre, die, mit der erlaubten Verständnislosigkeit der Nachgeborenen, den Chic des Terrorismus entdeckt hat (und natürlich nur seine Signifikanten meint), hinterherzusurfen. So bietet der Film letztlich nicht mehr als das brave Abhaken der Stationen, auf denen sich die erste Generation der RAF konstituiert hat. Spielszenen werden mit Fernseh- und Wochenschaubildern gemischt. Als auch nichts weiter bedeutende Signale der Verfremdung werden Brecht-Zitate eingstreut, sonst aber ist das Drehbuch um authentischen Jargon bemüht; die Inszenierung bleibt dabei so bieder und einfallslos wie das Spiel der Darsteller. Klar ist, dass man auf dramatische Zuspitzungen, eine mit Plotpoints arbeitende Dramaturgie mit voller Absicht verzichtet hat. Ja, man kann den Machern sogar zustimmen in all dem, was sie bewusst unterlassen haben – hätten sie nur etwas entgegenzusetzen gehabt, dass irgendwie von Interesse ist. Donnerstag, Februar 14, 2002
The Deserted Valley (Pham Nhue Giang, Vietnam 2002)
Forum Der Schauplatz: Die tiefste pädagogische Provinz in einem vietnamesischen Tal, grün bewaldet, aber spärlich besiedelt, fernab jeder Zivilisation. Die Schulbehörden, Institutionen jeder Art, scheint es, sind weit und haben das Lehrertrio aufgegeben, das gegen den Widerstand der Eltern, die ihre Kinder besser bei der Haus- und Feldarbeit brauchen könnten, die tägliche Unterrichtsdisziplin aufrechtehalten. Besonders eifrig beim Einfangen der nicht erschienen Schüler (die Holz zum Markt bringen oder auf ihren Bruder aufpassen müssen) ist der Schuldirektor, der den Unterricht selbst den beiden Lehrerinnen Minh und Giao überlässt. Was eine gute Idee ist, wie man später sieht: Mehr als Liebeslieder und Kampflieder gegen den Faschismus zu singen, bringt er, als er einspringen muss, nicht zustande. Ohne die Stützstreben einer Institution ruht der Fortbestand der Schule mit nicht mehr als zwei winzigen Unterrichtsräumen ganz auf dem persönlichen Engagement der Beteiligten, ist von persönlichen Krisen sofort bedroht. Eine solche Krise stellt sich ein, als Giao sich in einen Mann aus einem der umliegenden Dörfer verliebt. Die beiden werden von der Schülerin Mi und vom Schuldirektor beim Liebesspiel im Fluss beobachtet. Das ist kein grundsätzliches moralisches Problem, jedoch: Mi ist in den Mann verliebt, der Direktor in die Lehrerin Giao. Also zettelt Mi eine Intrige an, die binnen Tagen zum Stillstand des Unterrichts führt. Weitere Komplikation: die Lehrerin Minh ihrerseits ist in den Direktor verliebt und verlässt, als er ihre Gefühle nicht erwidert, das nun ganz verlassene Tal. Regisseurin Pham Nhue Giang erzählt ihre Liebesgeschichte im pädagogischen Milieu mit ruhiger Hand, fängt wunderschöne Bilder der unendlich grünen Vegetation und erstaunliche Töne der Waldfauna ein, die den Aufruhr der Herzen beruhigen und konterkarieren. Die Kamerabewegungen sind so flüssig, dass man auch das noch dem ständig fallenden warmen Regen zuschreiben möchte. Der Ton schwankt zwischen Komödie und Drama, im Grunde aber hat der Filme keine Tragik im Sinn. Nur konsequent ist es daher, dass die Dinge am Ende die vom Zuschauer erhoffte Wendung nehmen. The Deserted Valley ist kein vietnamesisches Filmwunder, aber eine seltsam beglückende Oase der Ruhe im Festivaltrubel.
Go (Isao Yukisada, Japan 2001)
Panorama In den ersten Minuten von "Go" kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Der Film legt ein atemberaubendes Tempo vor, seine Schnitte, Blenden, Zeitraffer, Beschleunigungen, technischen Spielereien und Tricks scheinen zu gleichen Teilen vom Hongkong-Kino und von Tom Tykwers "Lola rennt" beeinflusst. Das will so gar nicht zu den Vorstellungen passen, die man sich gemacht hatte vom japanischen Kritikerlieblingsfilm des letzten Jahres, der es, so hatte man gelesen, wagt, den japanischen Rassismus gegen in Japan geborene Koreaner anzuprangern. In den ersten Minuten geht es, auf den ersten Blick jedenfalls, überhaupt nicht um Diskriminierung, sondern darum, Sugihara zum Helden aufzubauen. Er besteht eine Mutprobe, er trotzt seinen Lehrern (in der streng kommunistisch-nationalistischen nordkoreanischen Schule), er ist der witzige Ich-Erzähler des Films, er ist respektlos und es überwiegt die Komik. Je länger der Film dauert, desto mehr beruhigt sich das Tempo, desto konventioneller wird die Erzählstruktur. Der Verdacht stellt sich ein, dass der virtuose Wirbel des Beginns auch eine Strategie ist, ein problemfilmunwilliges Publikum einzufangen und dann, am geschluckten Angelhaken, genau dahin zu führen, wo Regisseur Isao Yukisada es haben will: zu der brutalen Erfahrung rassistischer Vorurteile, die Sugahari machen muss - und zwar genau da, wo es den Zuschauer am meisten schmerzt, mitten in der romantischsten Liebesgeschichte. Vor der ersten Liebesnacht gesteht Sugihara seiner Freundin Sakurai seine Herkunft. Nur eine Kleinigkeit, meint er. Sie aber ist entsetzt - ihr Vater (der hier für ein ganzes gesellschaftliches Über-Ich zu stehen scheint), meint sie, habe ihr beigebracht, dass Koreaner und Chinesen schmutziges Blut haben. Der Gedanke, mit einem Koreaner zu schlafen, verursacht ihr Ekel. Zu diesem Zeitpunkt scheint der Film seinen frenetischen Start vollends vergessen zu haben. Statt in Hong Kong befinden wir uns mitten in Hollywood, aus dem Comic ist ein ernsthaftes Drama geworden - wenngleich mit witzigen Einschüben. Der Umschlag der Ästhetik ist frappierend, auch Gewalt bekommt plötzlich ein anderes Gewicht. Die heftigen Prügeleien, mit denen Sugihara zum gefürchteten Kämpfer wird, tun, trotz des vielen Bluts nicht weh. Ganz anders zwei Szenen gegen Ende: Sugiharas bester Freund wird auf demselben U-Bahnsteig niedergestochen, auf dem einst Sugihara der U-Bahn entkam (das war die Mutprobe des Anfangs) und verblutet elend zu Tode. Ein schmutziger, ein brutaler Kampf ist auch der Box-Fight, mit dem Sugihara und sein Vater (ein früherer Box-Champion) ihren Konflikt um die Haltung zu Nordkorea austragen. Dadurch wird "Go", der - Hollywood, wie gesagt - schlussendlich auf Harmonie hinauswill, zum interessanten Exempel der Ästhetik von Gewaltdarstellungen.
Framing Reality
Theorie-Begleitkonferenz zur Berlinale Slavoj Zizek, Gertrud Koch, Andres Veiel, Christopher Roth und Haron Farocki im Podiumsgespräch Catherine David, die Vorzeige-Intellektuelle des Kunstbetriebs, hat’s mit der letzten Documenta vorgemacht, die Berlinale macht diesmal (ausgerechnet beim Debüt des bekennenden Nicht-Intellektuellen Dieter Kosslick) einen ersten kleinen Hüpfer hinterher: mit Hilfe des in Potsdam beheimateten Einstein-Forums gibt es, erstmals, einen Beigeschmack von Theorie zur Leistungsschau des Films. Was Rang und Namen hat in jenem (vor allem in Deutschland) sehr schmalen Bereich, in dem sich Film und Theorie kreuzen, hat man unter dem beziehungsreichen englischen Titel „Framing Reality“ zusammengerufen und im Otto-Braun-Saal versammelt. Der liegt zwar nur einen kurzen Steinwurf vom Berlinale-Palast – der im wirklichen Leben ja eine Musical-Spielstätte ist – entfernt, nicht ohne Absicht und entgegen ersten Plänen hat man den Potsdamer Platz jedoch mit dem Hinterteil zu Scharouns Staatsbibliothek mit dem Otto-Braun-Saal orientiert, so dass man vom Kino zur Konferenz erst mal mit der Kirche ums Dorf rum muss. Und tatsächlich hatte man den Eindruck, dass, wenigstens in der Sektion, die ich gesehen habe, kaum Berührungen stattfanden, zwischen den Filmjournalisten (am Premiere-Halsband sollt ihr sie erkennen) einerseits und den Theorie-Groupies andererseits, die, wie man mutmaßen darf, vor allem gekommen waren, um ihren Star Slavoj Zizek in Aktion zu erleben. Daneben verblassten die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch, die beiden Filmer Andres Veiel (Black Box BRD) und Christopher Roth (Baader), während der Doku-/Essay-Filmer Harun Farocki von links außen den Eindruck zu vermitteln verstand, dass er über allem irgendwie drüber stehe. Zizek enttäuschte nicht: aus eher katatonisch wirkenden Ruhezuständen fuhr er immer wieder mit einem Schachtelteufel-Furor empor, der an nichts so sehr erinnerte wie einen Reich-Ranicki-Auftritt. In der Diskussion ging es um das Verhältnis von Dokumentar- und Spielfilm, um die Frage, in welcher Weise welche Formen von „Realität“ beim einen wie beim anderen ins Spiel kommen. Andres Veiel, der zur Zeit vielleicht bekannteste deutsche Dokumentarfilmer, vertrat dabei die humanistische Schule, sprach von der Suche nach „inneren Wahrheiten“ und plädierte für den fürsorglichen Umgang des Dokumentaristen mit den Menschen in seinen Filmen. Christopher Roth, dessen Baader-Biopic morgen im Wettbewerb läuft und mit Spannung erwartet wird, setzt dagegen auf eine Strategie der Verstörung: indem er seinen Film mit einer faustdicken historischen Lüge enden lasse, werde nachträglich die Richtigkeit des zuvor Gezeigten in Frage gestellt. Harun Farocki versucht der Wahrheit in seinen Filmen wiederum auf dem reflexiven Umweg über die reine Meta-Ebene auf die Schliche zu kommen, arrangiert – wie in seinen „Gefängnisbildern“ (mehr hier) - vorgefundenes Material, analysiert Strukturen und interessiert sich nicht für Menschen als Privatpersonen. Zizek – der, ganz wie Reich-Ranicki, bei Nennung eines Lieblingsstichworts sofort in die zu erwartende Richtung losstürmt – versicherte, dass er nichts für weniger aufschlussreich hält als das sogenannte Private, in dem sich dann angeblich die ganze Wahrheit zeigt. Das Private, so seine dialektische Wendung, ist gerade die Maske. Die Wahrheit finde man nicht in den Bildern mehr oder weniger naiv dokumentarischer Wirklichkeitssabbildung, sondern – gut lacanianisch - nur in den Phantasmen. Der Glaube, man könne im Dokumentarfilm einer unverstellten Authentizität auf die Spur kommen, sei genau deshalb verfehlt. Wir alle spielen immer schon Theater. Nicht gerade eine umwerfende Erkenntnis, das wusste der Soziologe Erving Goffman schon vor dreißig Jahren. Gertrud Koch dagegen fragte sich und die Runde, welcher Natur denn eigentlich dieses nicht tot zu kriegende Interesse eines jeden, auch des Theoretikers, an der Wirklichkeit des Gesehenen in jeder Reportage, in jedem Dokumentarfilm sei. Auf diese entscheidende Frage bekam sie leider keine Antwort.
Iris (Richard Eyre, GB 2001)
Wettbewerb Von Günter H. Jekubzik Im ganzen Oscar- und Star-Rummel rund um den Schizophrenie-Film "A Beautiful Mind" droht ein stilleres Werk in Vergessenheit zu geraten. Dabei ist das Vergessen genau das Schicksal der Alzheimer-Patientin, von der "Iris" im Wettbewerb auf bewegende Weise erzählt. Die Wissenschaftlerin Dame Iris (Julie Dench) spricht nie ein unreflektiertes Wort aus. So sind ihre Romane erfolgreich und beliebt, sie gilt als die bedeutendste Autorin ihrer Zeit, ihre Vorträge sind ein geistiger Hochgenuss. In letzter Zeit bemerkt ihr Mann John (Jim Broabent, der Ziedler aus "Moulin Rouge") allerdings, wie sie beim Schreiben lange nach einem Wort sucht. Die Anzeichen häufen sich und eine Gehirnuntersuchung bringt das schreckliche Ergebnis: Iris hat Alzheimer. Die Ärzte, die besten des Landes, reden Klartext: Es gibt keine Heilung, keine Rettung vor dem völligen Verfall des Gedächtnisses. So müssen Iris und vor allem ihr Mann John alleine damit fertig werden, dass aus dem hochintelligenten Menschen, der so viel Wert auf seinen Verstand legte, jetzt ein infantil wirkender wird, der tagelang Teletubbies sieht. In ihrer - oder seiner - Erinnerung läuft die Lebens- und Liebesgeschichte des ungewöhnlichen Paares ab. John verehrte sie schon immer, blieb aber stotternd und ungeschickt am Rande der schillernden Bekanntschaften einer strahlenden Iris (Kate Winslet). Erst spät öffnet sie sich und gesteht ihre Liebe nur zu John. In wunderbar gefühlvollen Bildern werden Gegenwart und Erinnerung miteinander verwoben. Immer wieder tauchen Iris und John in ihrem See, begegnen sich unter Wasser als junges Paar. Mit Bildersprache versucht Regisseur Richard Eyre die geheimnisvolle, rätselhafte und verschlossene Welt der Alzheimer-Kranken zu ergründen. Aber durch die exzellenten Darsteller wird auch der Mitleiden Johns nuanciert und glaubhaft vermittelt. Grobe Töne, wie sie "A Beautiful Mind" immer wieder anschlägt, bleiben aus. In der Stimmung, in den Bilderwelten lässt sich die Hand des Produzenten von "Der englische Patient" Antony Minghella wiedererkennen. Ein gelungener, ein wichtiger Film, dem man Preise im Berlinale-Wettbewerb wünscht, aber vor allem viele Zuschauer. Doch Emma Thompsons Krebsgeschichte "Wit", die letztes Jahr in Berlin lief und trotz aller Brillanz nie ins Kino kam, zeigt, wie schwer es solche Themen haben.
Piedras (Ramon Salazar, Spanien 2002)
Wettbewerb Zu den wirklich schlimmen Festivalerfahrungen gehören oft gar nicht so sehr die ärgerlichen Filme, die einem tief contre coeur gehen, denn sie fordern wenigstens zur Auseinandersetzung heraus. Ärger sind meist die mediokren Werke, die einem nichts entlocken können als ein heftiges Gähnen. „Piedras“ ist ein solcher Fall. Man sieht dem Film an, was er sein will, es steht ihm auf die Stirn (und für die ganz Langsamen auch ins Presseheft) geschrieben: ein spanisches Short Cuts nämlich, eine Variante von Robert Altmans Vielpersonenstück, diesmal mit Frauen in den Hauptrollen. Leider ist der junge Spanier Ramon Salazar, um dessen Debütfilm es sich handelt, als Regisseur weder Robert Altman noch als Drehbuchautor Raymond Carver. Für keine einzige der fünf zentralen Geschichten, die allesamt noch einmal in Nebenerzählungen ausfransen, kann man sich wirklich interessieren – um ehrlich zu sein, fällt es oftmals sogar schwer, sich zu erinnern, wer genau nun wer war und mit welchem Schicksalsschlag zu kämpfen hatte. Seinen Grund hat das darin, dass fast alles, was Piedras erzählt, bloße Luftwurzeln schlägt in einer Scheinwirklichkeit. Man sieht die Straßen von Madrid, sieht die geistig behinderte Anita darin offenen Mundes herumlaufen und hat doch nie den Eindruck, dass es eine innere Verbindung von Geschichten und Schauplatz gibt, oder auch nur eine innere Notwendigkeit der Geschichten selbst. Salazar zwingt, was anders nicht zueinander finden will, in einem durchgehenden Leitmotiv zusammen: Schuhe. Isabel (Angela Molina), von ihrem reichen Mann betrogene Ehefrau, ist eine Schuhfanatikerin beinahe vom Schlage Imelda Marcos. Sie kauft und stiehlt Schuhe in großer Zahl, aber in zu kleinen Größen und legt sich dann beim Fußtherapeuten auf die Couch. Maricarmen (Vicky Pena), die Taxifahrerin, trägt grundsätzlich nur Hauspantoffeln, ihr Sohn setzt sich in den Kopf, mit roten Gummistiefeln Fußball zu spielen. Da hat er aber Pech. Des weiteren gibt es noch die plattfüßige Puffmutter Adela (Antonia San Juan), die sich in den Ehemann von Isabel verliebt und die Mutter von Anita ist, die wiederum ihren Pfleger Joaquín begehrt. Leire, die fünfte der Protagonistinnen (mit gestohlenen Schuhen), trennt sich gerade von ihrem Freund und landet am Ende in Lissabon. Außerdem ist sie die Stieftochter von Maricarmen. So oder so ähnlich versucht Salazar sein Personal nach und nach zu verschwippen und verschwägern, aber mehr als ein Erzähltrick ist das nie. Auf der Habenseite hat der mit 130 Minuten unendlich lang scheinende Film ein paar clevere Schnitte und den schnellsten Fick des Festivals. Mittwoch, Februar 13, 2002
The Royal Tenenbaums (Wes Anderson, USA 2001)
Wettbewerb Tobias Kniebe stellt heute in der Süddeutschen Zeitung die entscheidende Frage: „Wer sind diese Leute, muss man also fragen, die sich der sublimen Größe dieses Magiers entziehen können?“ Der Magier ist, seiner Meinung nach, der als neues amerikanisches Regie-Genie gefeierte Wes Anderson, die sublime Größe hat er in seinem neuesten Film „The Royal Tenenbaums“ entdeckt. Wer die anderen Leute sind, weiß ich nicht, aber hier ist schon mal einer. So recht beschreiben kann Kniebe die Faszination Tenenbaum nicht, das räumt er selber ein, entdeckt hat er immerhin „tausend popkulturelle oder komplett private Referenzen“ und es stimmt, die gibt’s, der Film ist übervoll damit. Aber gerade diese Überfülle, diese Wut, mit der jedes einzelne Bild bis an den Rand des Wahrnehmbaren mit nichts weiter als sich selbst bedeutenden Verweisungen (ins Nichts), mit farbenfroher Popkultur ausgestopft wird, stellt sich, andersrum betrachtet, gerade als das größte Problem dar. Sie macht nämlich jede einzelne der Einstellungen zum bloßen Ausstellungsstück, zum Stillleben beinahe, in dem alle Bedeutung, alle Narration, auch die Figuren stillgestellt sind, tote Requisiten. Diese Requisiten, die die Figuren sind, müssen nun – ganz und gar künstlich und mühevoll – reanimiert werden durch einen Plot, der Wes Anderson im Grunde seines Herzens scheißegal ist, durch Schicksale, mit denen er einen Scherz um den anderen treibt. Unterteilt ist sein Film in acht Kapitel plus Epilog, eingeleitet wird jedes dieser Kapitel durch den Blick auf die ersten Zeilen des Drehbuchs. Der Film selbst ist dann sozusagen nichts als die Fortsetzung des Drehbuchs mit den Mitteln der ins kleinste ausformulierten Bebilderung (und Vertonung: Popmusikreferenzen von Nico, zweimal, bis Nick Drake etc. pp, spielen eine große Rolle), keineswegs etwas, das sich eigenständig voranbewegen könnte, das eine eigene Dynamik hätte. Abgesehen von der Implosion in den eigenen Bildern und Verweisen (die durchaus beabsichtigt ist), zielt "The Royal Tenenbaums" auf zwei weitere Dinge, eines direkt, das andere indirekt. Was er will, unmittelbar und Bild für Bild, ist Komik. Um die zu erreichen, scheut er keine Skurrilität, vor allem auch: keine Denunziation seiner Protagonisten. Was man Todd Szolondz, der in Wahrheit einfach ein pessimistischer Humanist ist, bei seinem Meisterwerk Happiness immer vorgeworfen hat, gilt stattdessen ohne jede Einschränkung für Wes Anderson: für einen guten Scherz verkauft er nicht nur seine Großmutter, sondern gleich die ganze Familie Tenenbaum. Ob Chas (Ben Stiller) und seine schreckliche Angst vor einem neuerlichen Unglück (seine Frau ist bei einem Flugzeugabsturz umgekommen, den er und seine zwei Söhne überlebt haben), ob Margot (Gwyneth Paltrow) und ihre Dauerdepression, Royal Tenenbaum (Gene Hackman) und sein Wunsch, seiner Rolle als fürsorgendes Familienoberhaupt nach zwanzig Jahren Totalausfall doch noch gerecht zu werden. All das, diese ganze Familie mit ihren Schrullen, ihren Problemen, ihren Talenten und ihren Versagensängsten, ist nichts (wirklich nichts) als ein Vorwand für Anderson, sich einen ausgefeilten Jux nach dem anderen zu machen. Alles schön bunt hier, aber dahinter stecken eine Eiseskälte und eine Selbstgefälligkeit, die einen richtig wütend machen können. Andersons letzter unverschämter Coup ist es, aus diesen Simulationen von richtigen Menschen, dieser Parade von Pappkameraden, zu guter Letzt auch noch Momente der Rührung ziehen zu wollen. Gerne würde man sagen: er macht sich über gewisse Hollywoodkonventionen lustig, das Happy End, auf das er seine Figuren zusteuert, ist Satire. Das aber ist nicht der Fall. Anderson glaubt allen Ernstes, den Zuschauern auf einer über die Satire noch einmal hinübersteigenden Ebene ein Mitgefühl entlocken zu können mit seinem durch und durch künstlichen Menschenzoo. Das ist der Punkt, an dem "The Royal Tenenbaums" nicht nur nicht komisch, nicht nur ein Zombie von einem Film ist, sondern auch noch in maßloser Selbstüberschätzung so richtig verlogen.
Chen Mo und Meiting (Liu Hao, China, Deutschland 2002)
Forum (Fokus China) Chen Mo und Meiting leben in Peking, zuhause fühlen sie sich hier aber nicht. Chen Mo ist vom Land in die Stadt geflüchtet, voller Hoffnungen, die sich nicht erfüllt haben, Meiting ist die Tochter einer während der Kulturrevolution in die Provinz zwangsumgesiedelten Familie, sie lebt nun, wieder in Peking, von kärglichem Lohn in einem Frisiersalon – das übrigens ist wörtlich zu nehmen, in einem kleinen Verschlag neben dem Geschäftszimmer sind die Betten der Angestellten. Der Zufall führt Meiting mit Chen Mo zusammen, er drückt ihr eine Kiste Blumen in die Hand, die er soeben geklaut hat, und rennt weiter. Trotz aller ungünstigen Umstände kommen die beiden sich näher, als Meiting ihren Job verliert, zieht sie zu Chen Mo. Er haust in einer bitterkalten Kabine, auf winzigem Raum, gelegentlich kommt die Vermieterin vorbei und erhöht die ohnehin überteuerte Miete. Gemeinsam richten sich die beiden in diesem Loch ein kleines Nest ein, bemuttern sich gegenseitig, Sex aber haben sie nicht, ein kleiner gestohlener Kuss und noch einer, mehr ist nicht drin. Ob das den Konventionen des Kinos (und noch dieser Art von low-budget Independentfilm) geschuldet ist oder den Konventionen der chinesischen Gegenwartsgesellschaft, ob es allein mit der speziellen Unschuld der Figuren zu tun hat: das lässt sich vom gemütlichen Kino am Potsdamer Platz aus nicht beantworten. Ohnehin kommt man bei einem Film dieser Art mit den eigenen Bewertungskriterien ins Schwanken: klar ist das holprig erzählt, manchmal unbeholfen, der Handkamerastil wiederum ist finanzielle Notwendigkeit einerseits und künstlerische Absicht andererseits. Unschätzbar ist ein solcher Film, ist die im Forum zusammengestellte Reihe jungen und unabhängigen chinesischen Kinos dennoch: der Einblick ins Leben der Tagelöhner und Unterprivilegierten von Peking ist, gerade an den Rändern der Bilder, in den zufällig eingefangenen Alltagsszenen aufschlussreich und von dokumentarischer Kraft.
Amen. Der Stellvertreter (Constantin Costa-Gavras, 2002)
Wettbewerb Heftiger Streit um Hochhuth-Film "Amen" Von Günter H. Jekubzik Der Stoff ist 38 Jahre alt und trotzdem sorgte er bislang für die heftigsten Diskussionen auf der 52.Berlinale: Der Grieche Costa-Gavras verfilmte mit "Amen" das Theaterstück "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth. Schon das Plakat zu "Amen" provozierte während der Berlinale: Auf schwarzem Grund liegen in blutrot ein Kreuz und ein Hakenkreuz übereinander. Aus einiger Entfernung springt das Hakenkreuz ins Gesicht und das Plakat hängt auch an einigen sensiblen Punkten Berlins. In den Ecken Fotos der Protagonisten, die während der Nazi-Diktatur am das Leben von Millionen Menschen kämpfen. Da ist der SS-Offizier Kurt Gerstein (Ulrich Tukur), der als Chemiker Konzentrationslager mit dem Todesgas Zyklon B versorgt. Aber er prangert gleichzeitig die Verbrechen in den KZ an, macht die Deutschen, die Alliierten und die Kirche auf das Ungeheuerliche aufmerksam. Der andere ist der junge Jesuit Ricardo (Mathieu Kassovitz) ?eine fiktive Figur, die für all die Kirchenleute steht, die gegen Nazi-Barbarei kämpfen wollten. Beide stoßen auf Widerstand ihrer Vorgesetzten, vor allem Ricardo erlebt eine Kurie, die wissentlich die Morde an den Juden ignoriert. Das Verhältnis von Papst Pius XII zu der Nazi-Regierung ist eines der dunklen Kapitel der Kirchengeschichte. Mit einem berüchtigten Konkordat sorgte der Vatikan früh für eine diplomatische Anerkennung des NS-Staates. Das Für und Wider ist seit Jahrzehnten umstritten und Costa-Gavras dramatisiert mit viel Kostüm und Kulisse über zwei Stunden lang die Positionen. Genauer gesagt, die Position Rolf Hochhuths, die Anklage gegen Pius XII, den "Stellvertreter" Gottes auf Erden. Der renommierte Regisseur Costa-Gavras ist ein Profi in Sachen Polit-Film: "Z", "Der unsichtbare Aufstand" oder "Music Box" gehören zu seinen vielen kämpferischen Werken. Hochhuth selbst nennt Costa-Gavras "seit Z den Meister des Politfilms" und mit dem Projekt "Amen" haben sich zwei Seelenverwandte gefunden. Denn auch Hochhuth kämpft immer noch. Er verteilt auf der Pressekonferenz dicke Bände mit Dokumenten zum "Stellvertreter". Er ist Costa-Gavras -der am Tag der Premiere seinen 68.Geburtstag beging - sichtlich dankbar, hält sich mit Kritik am Film zurück. "Der Film hat seine eigenen Mittel, etwa den starken Musikeinsatz. So etwas können wir auf dem Theater nicht machen." Die Meinungen nach der ersten Vorführung sind breit gestreut, von Begeisterung bei einigen amerikanischen Journalisten bis zur skeptischen Haltung des Vertreters von "Radio Vatikan". Die Deutschen fechten die alten Debatten um das Theaterstück "Der Stellvertreter" wieder aus. Dazu passt, dass auch die aktuellste Umsetzung in den alten Formen des Politfilms verharrt. Löblich und notwendig, ja - aber ein bemerkenswertes filmisches Ereignis war es nicht.
A Beautiful Mind - Genie und Wahnsinn (USA 2001)
Wettbewerb (Außer Konkurrenz) A Beautiful Mind, soeben achtfach oscarnominiert, ist ein industriell gefertigtes Produkt hoher Qualität. Oder was die Industrie namens Hollywood eben für hohe Qualität hält. Genau das, die mit Stumpf und Stiel verinnerlichten Maßstäbe, die da gelten, stellt der Film auf so herrliche Weise bar jeder Selbstreflexion aus, dass man ihn zukünftigen Hochschulseminaren nur wärmstens empfehlen kann. Erst einmal: kaum etwas an A Beautiful Mind ist schlecht oder misslungen auf die Weise, auf die etwa Schiffsmeldungen ein durch und durch missratener und ärgerlicher Film ist. Die Dialoge sind intelligent, die Inszenierung ist auf zurückhaltende Weise auf den Effekt der Überwältigung durch Nicht-Überwältigung angelegt. Russel Crowes Spiel geht zwar gelegentlich schrecklich auf die Nerven, ist aber wiederum haargenau das, was in einem solchen Film von ihm erwartet wird. Das Ende, an dem einem das Herz sentimental geknickt, gefaltet und in den Schrank gelegt werden soll, ist, natürlich, unerträglich, aber auf so paradigmatische, ja so authentische Weise Hollywood, dass einen genau das fast schon wieder rühren kann. Erzählt wird eine höchst moralische Geschichte vom jungen Mathematik-Genie, dessen Hauptproblem es ist: er hält sich dafür. Dieser junge Mann ist arrogant. Eigentlich geht es A Beautiful Mind um nichts anderes, als John Nashe ein anständiges demokratisches Bewusstsein von persönlicher Bescheidenheit einzubimsen. Dafür wird er in die tiefsten Tiefen des Unglücks geführt, vor den Augen des Zuschauers zerkrümelt, gedemütigt und elektroschockbehandelt. Als er nach dieser an Leib und Seele erfahrenen Erkenntnis, von der Frau an seiner Seite in unerschütterlicher Liebe geleitet, zurückkehrt an den Ort, an dem er seine Arroganz ausgestellt hatte, ins Klassenzimmer, setzt er sich bescheiden in die hintere Reihe. Jetzt, und erst jetzt, ist er reif für den Nobelpreis. Der Satz, den er zu Beginn gesagt hat: "Ich bin sicher, dass der Unterricht ihre und vor allem, was unendlich viel wichtiger ist, meine Zeit verschwendet." Für diesen Satz lässt ihn der Film büßen. Und dieser Satz ist es, der DIE FRAU an ihn ketten wird, deren leiser Trotz sich, wie sich das gehört, in bedingungslose Unterstützung verwandelt. Man sieht A Beautiful Mind eine ganze Weile an, was aus dem Film in den Händen von, sagen wir, David Fincher hätte werden können. Ein Trip in ein Wahnsystem, der dem Betrachter den Boden unter den Füßen wegzieht, der ihn narrt, der ihm den Horror zumutet, sich mit dem Blick des Wahnsinnigen zu identifizieren. Andererseits: Wie hier mit der größten Selbstverständlichkeit der Wahn als cleanes Hollywoodbild dargestellt wird, das ist in sich schon wieder ein reichlich komplexer Sachverhalt. Wie, in einem selbst schon fast pathologischen Reinlichkeitswahn, alles unternommen wird, den Betrachter keinesfalls zu verstören. Und dieser Glaube an die Vernunft, diese spießbürgerlichen Anbetung des - bescheiden gewordenen - Genies, diese Rücksichten auf Darstellbarkeit, die immer und immer wieder nicht anders können, als das Unverständliche dem Betrachter doch nahe bringen zu wollen: hier, auch das in seiner Direktheit wieder ganz exemplarisch, in Gestalt von fünf Frauen, die John Nashe schnurstracks in Theorie verwandelt. Wer die Frau verschmäht und stattdessen lieber denkt: der muss ein Genie sein und ein Wahnsinniger. Dienstag, Februar 12, 2002
Seafood (Zhu Wen, China / Hong Kong 2001)
Forum Xiamei, eine Prostituierte aus Peking, hat vom Leben genug. Mit keinem anderen Ziel als sich umzubringen, fährt sie hinaus aufs Land, nach Beidaihe. Dort machen die Mitglieder von Chinas Politkaste bevorzugt Urlaub, Regisseur Zhu Wen hat aber Bilder gefunden, die das alles andere als wahrscheinlich machen. Der Film eröffnet mit einem Blick aufs Meer, auf die Wellen, die an den Strand spülen. Das ist nicht Xiameis Blick, es ist niemandes Blick. Ein symbolisches Bild, Xiamei ist gestrandet. In Beidaihe ist Winter, alles ist grau und gottverlassen. Die Videobilder von Seafood sind schmutzig und düster noch in der Helligkeit des Schnees und des Eises, auch sonst: nirgends ein Trost. Im Hotel, das sich Xiamei für ihren Selbstmord ausgesucht hat, gibt es kaum Gäste, nur einen jungen Dichter auf ihrem Gang. Ironie des Schicksals: auch er hat nichts besseres zu tun, als sich umzubringen. Ihm gelingt es, die Polizei taucht auf, vor allem ein Polizist, Deng Jianguo, der ahnt, was Xiamei im Schilde führt, der alles unternimmt, sie daran zu hindern. Nicht, nicht allein jedenfalls, durch gutes Zureden. Er vergewaltigt sie, er schlägt sie, er fährt mit ihr im geliehenen Angeberauto (ein Audi!) durch die Gegend, füttert sie mit Fisch, daher der Titel, in der festen Überzeugung, dass man angesichts von Muscheln und Meeresfrüchten nicht mehr ernsthaft an Selbstmord denken kann. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden, Xiamei will fliehen, er ist immer wieder zur Stelle. Man kann die Beziehung zwischen den beiden kaum beschreiben, vor allem ihn nicht, in seiner Mischung aus Fürsorge und brutaler Gier, aus Rechthaberei und echtem Interesse. Viele der Wendungen, die der Film nimmt, kommen unerwartet. Schockierend aber endet die letzte Konfrontation der beiden. Xiamei kehrt danach, kuriert auf denkbar unsentimentale Weise, nach Peking zurück, in ihren alten Job. Der düstere Film endet auf einer geradezu beschwingten Note. Sehr merkwürdig. Sehr schwer verdauliche Kost. Sehr sehenswert.
Viel Passiert (Wim Wenders, D 2001)
Wettbewerb (Außer Konkurrenz) Swing (Tony Gatlif, Frankreich 2001) Panorama Fremde Töne Kölsche BAP und Gypsy-Jazz aus Straßburg Von Günter H. Jekubzik Berlin. Kurz nach Karneval gibt's wieder Kölsch - in Berlin. Rheinische Heimatklänge bestimmen den neuen Wim Wenders " Viel passiert - Der BAP Film", der im Einklang mit dem BAP-Star Wolfgang Niedecken entstand und Mittwoch Abend im Berlinale-Palast seine Weltpremiere erlebte. Niedecken hockt sich lässig in das stilvolle Essener Lichtburg-Kino, zum Träumen, Erinnern, Erzählen und zum Musizieren mit der bespielten Leinwand im Rücken. Chronologisch laufen Leben und Lieder des immer gleichen Niedecken ab, vor und nach "Verdammt lang her", dem Lied, das BAP über alle Dialektgrenzen hinweg berühmt machte. Immer wieder alte und für den Film inszenierte Konzertaufnahmen, dazwischen einzelne Songs und ihre Hintergründe. Wenders bastelt handwerklich geschickt mit an derNiedecken-Legende vom Milieu und der kölschen Authentizität. Die neunzig Minuten sentimental stimmende aber recht langweilige Musik-Legende reißt nicht vom Hocker und hat auf einem internationalen Festival nichts zu suchen. Die CD-Werbung erfolgt in einem netten, gewitzten und stilvollen Rahmen - Wenders ist kein Filmstudent mehr! Aber ein Werk, das für sich steht und ohne deutsche Untertitel in größerer Entfernung vom Rhein, geschweige im Ausland, ankommen kann ist "Viel passiert" bei weitem nicht. Im Gegensatz zu dem wahrlich internationalen Meisterwerk "Swing", das im Panorama minutenlange Begeisterungsstürme hervorrief. Festivalchef Dieter Kosslick kündigte an, die Berlinale solle wieder ein Festival der Völkerverständigung werden. Ob es gelingt, werden die nächsten Jahre zeigen. "Swing", ein Film aus dem Panorama der 52. Berlinale, erfüllt diese Idee jedoch von der ersten Note an: Der französische Junge Max kommt über den Fluss zu einer Zigeuner-Ansiedlung, um beim "Gitane" Miraldo Reinhardt Gitarre zu lernen. Miraldo heißt nicht nur wie die Legende Django Reinhardt, er spielt auch ebenso furios. Noch neugieriger als auf die Zigeuner-Geschichten von Miraldo ist Max allerdings auf dessen Enkelin, ein Mädel, so keck, frisch und lebendig, dass sie wie der Jazz-Stil Swing genannt wird. Immer wieder löst sich der Film von Tony Gatlif ("Gadjo Dilo") in Musik auf, feiert das Feiern und das Leben. So hat man "Occi ciorni" noch nie gehört. Der Höhepunkt ist eine Jam-Session mit Juden, Arabern, Roma und ihren eigenen Musikstilen. Liebeslied von einer Vereinigung ist im Gegensatz zu Lessing aufklärerischer Ringparabel ge- und erlebte Verständigung in kunstvollster Weise. Mit solcher Musik, mit solchen Filmen ist Völkerverständigung das reinste Vergnügen.
July Rhapsody (Ann Hui, Hong Kong 2002)
Panorama Spezial Lam Yiu-kwok unterrichtet an einer Highschool in Hong Kong chinesische Literatur. Nicht gerade das angesagteste Fach in einer Zeit, in der seine einstigen Mitschüler an der Börse das große Geld machen und seine Schüler im Unterricht die Comics offen auf den Tischen liegen haben. Lam ist beliebt, aber dass er seine Klasse im Griff hat, wird man kaum sagen können. Er ist schüchtern und sympathisch, aber stets von einer Aura der Melancholie umgeben. Die hat ihre Gründe in einer Vorgeschichte, die "July Rhapsody" nach und nach aufdeckt, während sich die vergangene Geschichte in der Gegenwart zu wiederholen beginnt. Eine Schülerin hat sich in ihn verliebt, ganz wie sich einst seine jetzige Frau Man-ching in ihren gemeinsamen – und gemeinsam bewunderten – Lehrer verliebte. Sie wurde damals schwanger, der Lehrer zog mit seiner Frau davon und Yiu-kwok, der Man-ching heimlich anhimmelte, heiratete sie, zog das Kind mit ihr groß. Plötzlich sind die Gespenster der Vergangenheit wieder präsent: Seng, der einstige Lehrer, kehrt unheilbar erkrankt in die Stadt zurück, Man-ching entscheidet sich, ihm in seinen letzten Wochen beizustehen. Yiu-kowk fühlt sich unterdessen immer stärker zu seiner Schülerin hingezogen, die ihn mit ihrem auftrumpfenden Selbstbewusstsein beeindruckt. Die Geschichte von "July Rhapsody" ist nicht unbedingt originell, aber Ann Hui erzählt sie ganz souverän, verschränkt raffiniert die Gegenwart mit der Vergangenheit, unterfüttert nach und nach die komplizierten Beziehungen der Personen mit der Vorgeschichte. Beeindruckend ist das Debüt der jungen Schauspielerin Anita Mui in ihrer Rolle als verwöhnte Schülerin, die Aufsätze schreibt, worüber sie Lust hat, die dem Schulleiter üble Flüche an den Kopf wirft und offensichtlich gewohnt ist, auch zu bekommen, was sie haben will. Völlig überzeugend auch Jackie Cheung als Mann mit einer ausgewachsenen Midlife-Crisis, als reichlich ratloser Lehrer. Über die Subtilität seiner Erzählung hinaus gewährt "July Rhapsody" die erstaunlichsten Einblicke in das Hong Kong der Gegenwart, etwa in der Konfrontation der den Jüngeren längst unverständlichen chinesischen Hochkultur mit dem allgegenwärtigen Shopping-Mall- und Handy-Turbokapitalismus. Warum, bitte schön, bekommt man einen solchen Film nicht im Wettbewerb zu sehen?
Halbe Treppe (Andreas Dresen, D 2002)
Wettbewerb Wer hätte geahnt, wozu Silberne Bären manchmal gut sind: Regisseur Andreas Dresen und sein Produzent Peter Rommel haben das Preisgeld für Dresens "Nachtgestalten" (Berlinale 1999) in ein waghalsiges Projekt gesteckt – das schon deswegen im voraus keine Fördergelder erhielt, weil es schlicht und einfach kein Drehbuch gab. Für drei Monate zogen Dresen, seine vier Hauptdarsteller, die siebzehn Musiker der Band 17 Hippies, die nicht nur die großartige Musik einspielten, sondern im Film selbst eine wichtige Rolle bekamen, und das Team von sieben Leuten nach Frankfurt (Oder), die vage Konstellation einer Geschichte um zwei befreundete Ehepaare und einen Ehebruch im Hinterkopf. Vor Ort, immer begleitet von der digitalen Videokamera, improvisierten sie, selbst noch ganz ungewiss, wohin es sie führen, wie die Geschichte enden, ob je ein richtiger Film entstehen würde. Die Darsteller, allesamt erfahrene Theaterschauspieler, lebten während der Drehzeit nicht nur in Frankfurt (Oder): sie arbeiteten tatsächlich in den Berufen, die die Figuren des Films ausüben. Uwe/Axel Prahl, der Mann, der von seiner Frau Ellen/Steffi Kühnert betrogen wird, übernahm die – im realen Frankfurt (Oder) vor einiger Zeit dicht gemachte - Imbissbude Halbe Treppe, Ellen stand in der Parfümerie hinter dem Tresen, Chris/Thorsten Merten saß als Radiomoderator im Studio von rs.2 im die Innenstadt Frankfurts dominierenden Oderturm und Katrin/Gabriela Maria Schmeide verbrachte ihre Zeit in einem Häuschen der LKW-Abfertigung vor der Stadt. Die Geschichte selbst als Grundstruktur des Films ist weder sonderlich originell noch spektakulär: In den Ehen von Uwe und Ellen, von Katrin und Chris, alle so um die vierzig, gibt es fast nur noch Routine, tagein tagaus dasselbe. Auch untereinander kennt man sich ewig – und doch verlieben sich, urplötzlich, Chris und Ellen ineinander, schlafen miteinander erst im Auto unter der Autobahnbrücke, über die die Laster hinwegdonnern, landen dann in einem billigen Hotel gleich hinter der polnischen Grenze. Es kommt, wie es kommen muss: Katrin ertappt ihren Mann und ihre beste Freundin in der Badewanne, nach dem ersten Entsetzen sind all erst einmal hin- und hergerissen zwischen Eifersucht, Freundschaft, Lust und schlechtem Gewissen und wissen nicht recht weiter. Das klingt, wenn man es erzählt, nach einer nicht gerade weltbewegenden Tragödie, wenn nicht nach gut gemeintem, aber langweiligem Sozialrealismus. Das Wunder ist, dass "Halbe Treppe" eine Präzision im emotionalen Detail und in der Beschreibung des Alltags besitzt wie kein anderer der bisher gezeigten Filme, eine Lust an der Zurückhaltung, in den Wendungen der Geschichte, aber auch in seinem oft umwerfenden Humor. Kaum zu glauben, wie punktgenau der Film die Verbindung von improvisierter Spontaneität und erzählerischer Konzentration hinbekommt, wie sicher er die Balance hält zwischen Drama und Komödie, wie lebensecht den Darstellern jede Geste, jedes Wort gerät. "Halbe Treppe" ist der zweite deutsche "Dogma"-Film des Wettbewerbs – und doch ist er der genaue Gegenentwurf zu Dominik Grafs auf ganz andere Weise bestechendem Experiment "Der Felsen":Während Graf inhaltlich wie formal auf Zuspitzung, auf Forcierung setzt, der Gefühle wie der Bilder, reduziert Andreas Dresen seine Geschichte auf die einfachsten Elemente. Die Darsteller, eine simple Story, einen Schauplatz, dem jeder Glamour fehlt. Beide Filme sind auf ihre Weise wunderbar. "Halbe Treppe", nach der Pressevorführung ebenso wie in der Pressekonferenz lautstark bejubelt, gehört in ein Genre, das man auf der Berlinale in den letzten Jahren gerne mit einem Silbernen Bären abgespeist hat (siehe "Mifune", den besten Film von 1999, siehe "Italienisch für Anfänger" im letzten Jahr). Man sollte diesmal ernsthaft über ein edleres Metall nachdenken. Montag, Februar 11, 2002
Chaos (Coline Serreau)
Panorama Lachen bis der Arzt kommt Colin Serreau lacht über Männer und leidet mit Frauen Von Günter H. Jekubzik Sie machte das Original zu "Drei Männer und ein Baby", amüsierte und bewegte mit der Sozial- und Liebes-Melange "Milch und Schokolade". Der neue Film der Französin Coline Serreau gehört zu den Highlights der durchmischten Berlinale-Reihe Panorama. Ganz schnell geht es in die Geschichte von "Chaos": Dem gehetzten Ehepaar kommt in den Straßen von Paris eine Frau in Panik entgegen, verfolgt von drei Männern. Paul verschließt schnell die Wagentüren und kümmert sich nachher mit Taschentüchern um ... die Blutflecken auf dem Auto! Dafür steigt Helene aus der Ehe und dem schrecklich albern selbstzentrierten Leben aus, setzt sich ans Bett der komatösen Frau. Während die Männlein zuhause wahnsinnig werden, gerät Helene in eine ganz andere, schreckliche und lebensgefährliche Geschichte. Die Komödie wird zum erschreckenden Kampf der Prostituierten Malika um ein selbstbestimmtes Leben. Seit sie vor dem Vater floh, der sie zur Heirat verkaufte, zwangen Zuhälter sie mit Gewalt und Drogen auf den Strich. Aber Malika ist klüger als die Schläger und auch, wenn es Jahre dauert, sie holt sich ein Leben zurück ... Serrault gelang mit der Komödie, dem Krimi und der Gesellschafts-Satire ein erstaunliches Kunststück, flott angerichtet mit der jazzigen Musik von St.Germaine. Mit umwerfenden Humor lockt sie an und leitet dann ohne Brüche zu einer engagierten und knallharten Anklage über. Die reichen westlichen Machos kriegen ebenso ihr Fett ab wie die verlogenen Araber. Am Ende genießen vier Frauen den Sonnenuntergang im eigenen Haus an einem Schweizer See. Schade nur, dass dies alles in minderwertigen Videoaufnahmen zu sehen war - ein bedauernswerter Trend dieser Berlinale. Früher fragten Flugzettel auf der Berlinale "Haben Sie schon einen Film einer Frau gesehen?" Haben wir, mit Vergnügen. Aber wer fragt jetzt in den Zeiten populären Videodrehens, ob wir auch mal einen Film auf Film gesehen haben.
Mahlzeiten (Edgar Reitz, 1967)
Retrospektive „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“ So lautete der letzte Satz des erst verhöhnten, dann berühmten, mittlerweile wieder berüchtigten Oberhausener Manifests, mit dem eine junge Generation von damals noch weitgehend unbekannten deutschen Filmemachern das heimische Kino revolutionieren wollte. Wie es der Zufall will, ist das fast genau vierzig Jahre her. Die Generation des deutschen Autorenfilms, die auf Oberhausen folgte, steht längst nicht mehr im besten Ruf, übrig geblieben sind wenige der 26 Unterzeichner, Alexander Kluge vor allem und Edgar Reitz, der eine probt seit geraumer Zeit die Revolution in Permanenz im Fernsehen, der andere hat mit seiner doppelten „Heimat“ seine ganz eigene Nische gefunden, der Startschuss für eine dritte Serie ist soeben gefallen. Die Retrospektive der diesjährigen Berlinale widmet sich den Umwälzungen der 60er Jahre, im Leben wie im Kino, in den verschiedensten Facetten. Der Neue Deutsche Film ist eine davon, es laufen heute weitgehend vergessene Werke von Herbert Vesely oder Hansjürgen Pohland, einige Filme von Alexander Kluge und auch Edgar Reitz’ einstmals mit dem Silbernen Löwen von Venedig in der Reihe Debütfilm ausgezeichneter Erstling „Mahlzeiten“. Eine seltsame, eine seltsam fremde Welt ist es, mit der einen der Film konfrontiert. Reitz’ Herkunft vom experimentalen Kurzfilm, dessen Heimat das Festival von Oberhausen gerade gewesen ist, ist von der ersten Minute an offenkundig. Verblüffend frisch und erkennbar an Frankreich, Godard und Truffaut geschult, ist die Erzählsprache des Films. Die Handkamera bewegt sich um die Figuren wie man es heute wieder aus den Dogma-Filmen kennt, die Erzählung ist sprunghaft, es gibt spielerische Elemente wie die Einblendung der Namen der Neugeborenen mitten ins Illusionsbild. Von heute nur noch schwer begreiflichem Ernst aber sind die Dialoge, die sich um die großen Sinnfragen drehen, geradezu unentzifferbar ist der Off-Kommentar, der einerseits für den erzählerischen Zusammenhalt sorgt, andererseits aber so überzogen bedeutungsschwanger daherkommt, dass man oft nicht weiß, ob das nun freiwillig komisch ist oder nicht. (Gut ist es in einem solchen Fall, hinterher den Filmemacher selbst befragen zu können, der auf die vorsichtige Publikumsnachfrage versichert, es handle sich ganz entschieden um ein ironisches Sprechen.) Die Geschichte des Films ist vergleichsweise simpel: Es begegnen sich auf dem Hamburger Werftgelände die Fotografin Elisabeth, der Medizinstudent Paul, ein paar Schnitte weiter sind sie verheiratet, das erste Kind ist unterwegs. Erste Krisen bahnen sich an, in geradezu serieller Produktion kommt dennoch ein Kind nach dem anderen zur Welt. Paul gibt sein Studium auf, verschwindet auf der Suche nach sich selbst, kehrt wieder zurück, Elisabeth ist wieder schwanger. Lange bevorzugt der Film ihre Perspektive – wenngleich er die wundersame Leichtigkeit, mit der sie neben ihren zuletzt fünf Kindern ein eher Bohemienne-haftes Leben zu führen in der Lage ist, nicht weiter erklärt -, dann aber lässt er sich recht ausführlich auf Pauls Scheitern als Arzneimittelwerbevertreter ein. Immer wieder bewegt sich „Mahlzeiten“ weg von der reinen Erzählung, hin zum Diskursiven, Parabelhaften, Über-Individuellen, verfremdet das Geschehen durch kontrapunktischen Musikeinsatz, durch herbe Schnitte, durch von den Figuren abschweifende Handkamera, durch den Off-Kommentar. Die stärkste Szene ist dann jedoch eine des konzentrierten Draufhaltens: mit grotesker Entschlossenheit begeht Paul Selbstmord, indem er, auf freiem Feld, die Abgase ins Innere seines Käfers leitet. Im Filmmuseum folgt kurz darauf ein Gespräch zwischen Edgar Reitz und dem Filmkritiker-Veteran Peter W. Jansen. Man spricht über die Aufbrüche der 60er Jahre. Reitz erzählt vom chinesischen Restaurant, in dem die Gruppe der Aufrührer – unter Anleitung Alexander Kluges – das Oberhausener Manifest entwarf. Er gibt einen Eindruck von der erstickenden Situation, die die jungen Filmemacher im Deutschland der 50er und 60er Jahre vorfanden. Bezeichnend die Anekdote, dass sein erster Kurzfilm auf weggeworfenem Filmmaterial von Billy Wilders zeitgleich gedrehtem „Eins, zwei, drei“ entstand. Und plötzlich ist, obwohl Reitz genau das vermeiden wollte, viel Nostalgie im Raum. Er erzählt vom Zerfall der Gruppe der filmbesessenen, in dieser Besessenheit lange eng verbundenen Filmemacher, der Anfang der siebziger Jahre mit den ersten größeren Erfolgen einsetzt. Und er beklagt, dass unserer Kultur und den Filmemachern der Sinn abhanden gekommen ist, dass die aktuellen Filme melancholische Bestandsaufnahmen unglücklicher Zeitumstände sind. Er klagt über das Publikum, das sich dem Schwierigen nicht stellen will, über die Institutionen, die nicht genug für die allgemeine Filmbildung unternehmen. Dann verlässt man das Filmmuseum, geht hinüber zum Berlinale-Palast, vorbei an den Fenstern des Hyatt-Restaurants. An der Bar sitzt, ins Gespräch vertieft, Alexander Kluge, das lebendigste der Gespenster des Neuen Deutschen Films.
The Shipping News / Schiffsmeldungen (Lasse Hallström, USA 2001)
Wettbewerb Quoyle (Kevin Spacey) ist ein Loser, sein ganzes Leben, im Zeitraffer vorgeführt, nichts weiter als eine Kette von Niederlagen. Bis ihn ein heftiger Schicksalsschlag trifft: er begegnet Petal (Cate Blanchett), die ihn heiraten will aus dem einzigen Grund, dass er dämlich genug ist, jede ihrer Eskapaden zu ertragen. Sie bekommen eine Tochter und bald darauf gibt es einen weiteren Schicksalsschlag, diesmal für den Zuschauer. Petal, die noch ein wenig Leben in die verquälte Umgebung brachte, stirbt bei einem Autounfall und der Film geht unaufhaltsam den Bach runter. Rettung für die verwundeten Seelen von Vater und Tochter bringt Quoyles Tante (Judie Dench), die mit den beiden ins Land ihrer Väter und Vorväter zurückkehren will, nach Neufundland. Noch vor den dreien sind sämtliche Klischees, die man mit er abgelegenen Gegend so verbindet, schon da: stürmisches Wetter, eigenbrötlerische Provinzler, jede Menge tief verbuddelter schlimmer Geschichten um Mord und Schändung, Inzest und Gewalt. Unvermeidlicherweise werden all diese Geschichten im Laufe des sich zäh dahinschleppenden Films ans Licht befördert und Stück für Stück in Form von Gesprächstherapien entsorgt. Was gleichfalls schon in Neufundland auf Quoyle wartet ist – neben dem Job als Zeitungsreporter, in dem er sich als wahres Naturtalent erweist – eine trauernde Witwe (Julianne Moore) mit zurückgebliebenem Sohn, bei der, wie die Faust auf dem Auge, Quoyle am Ende landen wird, nachdem sie gemeinsam ihr nicht allzu dunkles Geheimnis ausgebuddelt haben. Ein faustdickes Symbol für die Verstrickung in düstere Vergangenheiten steht außerdem noch herum: das alte Haus der Quoyles, einst übers Eis gezogen wie Fitzcarraldos Schiff über den Berg, jetzt gegen die heftigen Stürme fest im Boden vertäut. Es wird am Ende, immerhin nicht per Gesprächstherapie, sondern von einem Sturm entsorgt. Schiffsmeldungen ist Hollywood, wie es schlimmer nicht geht. Sämtliche zur Verfügung stehenden Produktionswerte, von Darstellern bis zur exquisiten Bildgestaltung, stecken hier mal wieder in einem Projekt, das im Innersten verrottet ist, sentimental bis zur Unerträglichkeit. Und weil die ganz großen Themen verhandelt werden, Liebe, Tod, Leidenschaften und allerhand esoterischer Krimskrams obendrauf, ist auch der Oscar schon sicher wie das Amen in der Kirche. Sonntag, Februar 10, 2002
Der Felsen (Dominik Graf, Deutschland 2001)
Wettbewerb Dominik Graf ist das Paradox eines intellektuellen Regisseurs, dem es mit aller Kraft seiner Wörter, Bilder und Töne ausgerechnet um Emotionen zu tun ist. Stets geht er dabei aufs Ganze und es ist kein Wunder, dass er immer wieder an Grenzen gelangt. An denen einem Hören und Sehen vergeht, im glücklichen Fall. Oder an denen man das Pathos kaum mehr ertragen mag, vielleicht ist das der unglückliche Fall. Andererseits nötigt er einen gerade an den Stellen, an denen einem Bedenken kommen, zu etwas, das den meisten bisherigen Beiträgen des Wettbewerbs nicht einmal als Möglichkeit ihres Filmemachens bewusst ist: zum Nachdenken über das Erzählen selbst, über die Willkür von Zusammenhängen und nicht zuletzt über die Darstellbarkeit von Gefühlen. Heaven übrigens, der zweite deutsche Festivalbeitrag der ersten Tage, stellt in gewisser Weise genau dieselben Fragen, fällt aber im entscheidenden Moment zurück auf den Glauben an die Kraft bloßer (großer, schöner) Bilder, die bei Graf gerade zur Diskussion steht. Psychologie im herkömmlichen Sinne, als konsequente und nachbuchstabierbare Motivierung der Figuren, kann nicht die Lösung sein, ist sie für Dominik Graf auch nicht. Wer seine normalen, auf Realismus gepolten Sehgewohnheiten an Der Felsen heranträgt und nicht bereit ist, sie aufzugeben, wird keinen Zugang zu dem Film bekommen, wird die Geschehnisse nur entsetzlich unplausibel, die Handlungsweisen der Figuren unverständlich finden. Dabei müssten einen schon die ersten Einstellungen auf die Spur setzen, die der Film konsequent verfolgen wird. Ein schwarzer Straßenhändler breitet diverse Gegenstände vor sich aus und aus dem Off werden wir auf die Möglichkeitsform des Geschichtenerzählens eingeschworen: Nehmen wir an, es ist ein Spiel, nehmen wir an, diese Geschichte wird von einem Gegenstand zum nächsten erzählt, folgt einer Logik des Zufalls, die Markierung alternativer Entwicklungsmöglichkeiten inklusive. Diese Markierung erfolgt aus dem Off, mit der verführerischen Erzählerstimme von Corinna Harfouch. Die Stimme liegt neben der Spur der reinen Erzählung, gibt mehrmals die radikale Alternative an: einmal jagt Katrin Engelhardt (Karoline Eichhorn), die Heldin des Films, Malte, dem jungen Mann hinterher, dem sie zufällig begegnet ist, mit dem sie eine so radikale wie unerklärliche Liebe verketten wird und die Erzählerin erklärt: Es gibt zwei Straßen in dem korsischen Dorf. Nimmt sie die falsche, wird die Geschichte von Katrin und Malte zu Ende sein. Sie wird die richtige nehmen, von selbst aber versteht sich das nicht. Schon zuvor hat der Film viele unberechenbare Wendungen genommen. Er beginnt als die Erzählung von einer zu Ende gehenden außerehelichen Affäre, nimmt eine kühne Abzweigung zum Erotikdrama, bis dann Malte und Katrin einander begegnen, sich verfolgen, sich verlieren, sich wieder finden werden. Nicht auf die Verbindungen und Anschlüsse kommt es an, sondern auf die Szenen höchster Intensität, in denen Graf die Bilder, die Tonspur (die weit über den Musik-Score hinaus ein Eigenleben führt), das atemberaubende Spiel seiner Hauptdarsteller zu Momenten selten gesehener Suggestivität verschweißt. Zum ersten Mal in seiner Karriere hat Dominik Graf bei Der Felsen mit der digitalen Videokamera gearbeitet, nicht ganz freiwillig, wie er in der Pressekonferenz erzählt: kurz vor Drehbeginn stellte sich heraus, dass das Budget für die geplante 35mm-Arbeit nicht reichen würde, also haben sich Graf und sein exzellenter Kameramann Benedict Neuenfels zum Dogma-Experiment entschlossen. Heraus gekommen ist, Originalton Graf, ein "Urlaubsfilm mit Sinfonie-Begleitung" (Musik: Dieter Schleip), der in radikaler Weise die Beweglichkeit der kleinen Kamera nutzt. Dabei hat sich die in Grafs Fernsehfilm Der Skorpion bereits auf die Spitze getriebene Zersplitterung des Erzählens noch einmal verschärft. Die Unschärfe vieler Bilder, ihre Rätselhaftigkeit, das grobe Korn und die rasch verfliegenden Fetzen sind ebenso bewusstes Kalkül wie die Sprünge in der Handlung, die Radikalität im Verzicht auf psychologische Auflösungen. Kein Wunder, dass Graf, wie er in der Pressekonferenz versichert, nie wieder mit einer konventionellen Kamera drehen will. In gewisser Weise ist Der Felsen ein in den Wettbewerb geschmuggelter Experimentalfilm, eine Zumutung in vieler Hinsicht, ein Wagnis nicht ohne Längen und nicht ohne kurze Momente, in denen er aus dem Gleis gerät. Dennoch und am Ende vielleicht gerade deswegen ist es ein grandioser Film, der die bisher gezeigten Konkurrenten um den Goldenen Bären bei weitem überragt.
Sen to Chihiro no Kamikakushi / Spirited Away (Regie: Hayao Miyazaki, Japan 2001)
Wettbewerb Die Erfolge, die der Regisseur Hayao Miyazaki mit Prinzessin Mononoke und dem im Wettbewerb der Berlinale gezeigten Spirited Away in Japan feierte, sind ohne Beispiel. Keine Frage: eine Kultur, in der der Manga (die japanische Version des Comic) eine so dominierende Rolle spielt, ist eher bereit, den Animationsfilm als seriöse Kunstform zu akzeptieren. Und obwohl Miyazakis Filme durchaus als Kinderfilme konzipiert sind, obwohl die Kinder sie auch wirklich lieben, ist der Erfolg quer durch alle Publikumsschichten riesengroß. Spirited Away hat mit sagenhaften 19 Millionen Besuchern den bisherigen Rekordhalter Titanic locker abgehängt, zuvor war Prinzessin Mononoke bereits zum erfolgreichsten japanischen Film aller Zeiten avanciert. Der oft gehörte Vergleich Miyazakis und des von ihm gegründeten Animationsfilmstudios Ghibli mit Disney ist, des Mediums und der Erfolge wegen, nahe liegend. Die ästhetischen Unterschiede sind jedoch beträchtlich. Während Disney im Prinzip Musicals dreht und immer dann in Schwierigkeiten gerät, wenn es etwas ernster zugehen soll (siehe zuletzt den Flop Atlantis), sind Miyazakis Werke stets Spielfilme ohne musikalische Auszeiten. Zudem geht es ihm nie um die Verfilmung existierender Legenden, Mythen und Märchen; jeder seiner Filme spielt, trotz zahlreicher Anspielungen und Bezugnahmen, in einer stets neu geschaffenen Welt, einem Kosmos für sich, oder wenigstens einem Nebenkosmos, der durch unzählige Motive mit dem Gesamtkosmos Miyazaki in Verbindung steht. Prinzessin Mononoke war ein Epos aus grauer Vorzeit, spielte in einer von Göttern und Zauberwesen bevölkerten Welt und thematisierte sehr aktuelle Probleme (wie Umweltzerstörung) im Umfeld einer fantastischen Welt von ungeheurem Detailreichtum. Verblüffend daran vor allem der Verzicht auf eindeutige Moral und die klare Zuordnung von gut und böse. In seinen oftmals drastischen Darstellungen von Gewalt und Zerstörungslust war der Film ganz klar an ein jugendliches oder erwachsenes Publikum gerichtet. Das ist bei Spirited Away etwas anders. Die Zeit ist die Gegenwart, die Heldin ist ein Kind. Chihiro ist zehn Jahre alt und erfährt gerade die erste einschneidende Veränderung ihres Lebens: sie zieht mit ihren Eltern in eine andere Stadt. Auf dem Weg dahin verfährt sich Chihiros Vater und sie stehen plötzlich vor einem mysteriösen Tunnel, hinter dem sich ein verlassener Themenpark aufzutun scheint. Während ihre Eltern in einer der menschenleeren Gassen ein Restaurant finden und sich die Bäuche vollschlagen, erkundet Chihiro die kleine Stadt, die sich bei Einbruch der Dunkelheit zu beleben beginnt. Dunkle Gespenster erscheinen aus dem Nichts und Chihiros Eltern sind in Schweine verwandelt. Aus einer in der Ferne hell leuchtenden Stadt am anderen Ufer eines großen Sees legt ein Schiff ab und bringt eine eindrucksvolle Reihe tierähnlicher Gestalten in die kleine Stadt. Es handelt sich, wie man erfahren wird, um die Geister einstiger Gottheiten, zum zentralen Schauplatz wird ein Badehaus, in dem sie es sich gut gehen lassen, aber auch ihre Wunden heilen wollen. Chihiro, die sich ganz langsam vom verängstigten kleinen Mädchen zur meist tapferen Heldin wandelt, erkämpft sich eine Aufenthaltsgenehmigung als Arbeiterin im Badehaus - und verliert mit dem Arbeitsvertrag ihren Namen. Die Chefin des Badehauses, die Hexe Yubaaba, gewinnt Macht über ihr Personal, indem sie ihm den eigenen Namen raubt und neue Namen gibt. Chihiro ist nun Sen. Die Abenteuer, die sie erlebt, bevor sie ihren Namen zurückgewinnen, den mit einem mächtigen Fluch im Bann der Hexe gefangenen Haku befreien und ihre Eltern in menschlicher Gestalt wiedersehen wird, sind zahlreich und fantastisch. Verzauberte, verhexte Wesen suchen Erlösung, es treten eine weise Spinne, ein verzogenes Riesenbaby und kleine Kohleschlepperameisen auf. Die Welt von Spirited Away ist dabei jedoch nur auf den ersten Blick die Ausgeburt reiner Fantasie. In seiner sehr bewussten Verbindung von uralten animistischen Vorstellungen, dem Themenpark aus der Edo-Zeit, in der Japan sich gänzlich vom Westen abgeschottet hatte, westlichen Elementen wie der Hexe Yubaaba oder der Anspielung auf die seit nun zehn Jahren anhaltende ökonomische Misere ist der Kosmos von Spirited Away immer auch die Allegorie des heutigen Japan. Hier wie in den anderen Filmen Miyazakis fasziniert aber, wie wenig die einzelnen Momente sich in eindeutige Botschaften auflösen lassen, wie durch und durch ambivalent die Figuren bleiben. Noch die bösartige Hexe Yubaaba erweist sich als rückhaltlos liebevoll ihrem Sohn gegenüber, ein gesichtsloser Geist verwandelt sich vom unglücklichen Wesen zum Monster und wieder zurück. Atemberaubend wie stets ist die Überfülle an fantastischen Kleinst- und Großwesen, die Miyazakis Welten bevölkern, denen er eine fürs Große und Ganze der Geschichte oft ganz überflüssige Aufmerksamkeit widmet. Ein wenig schade ist es dennoch, dass nun Spirited Away als erster Animationsfilm in der Geschichte der Berlinale im regulären Wettbewerb läuft und nicht schon Prinzessin Mononoke. Spirited Away ist ein reines Vergnügen, aber doch immer auch ein Kinderfilm. Die monumentale Wucht des Vorgängers Prinzessin Mononoke, der einen von einem Staunen ins nächste reißt, besitzt er nicht. Die Kritiker wenigstens scheinen dem Werk wenig Verständnis oder Interesse entgegenzubringen; in ungewöhnlich großer Zahl verließen sie die Pressevorführung, der Applaus blieb spärlich. Eine beinahe peinliche Angelegenheit war dann die Pressekonferenz, auf der allerdings nur der Produzent des Films anwesend war - eine Grußbotschaft Miyazakis wurde über Video eingespielt. Keine zwanzig Leute verloren sich im sonst so dicht gedrängten Rund, ein großer Teil davon japanische Korrespondenten. Einer von ihnen drehte vor dem Beginn der Veranstaltung einmal den Spieß um und fragte seine deutschen Kollegen nach ihren Eindrücken vom Film: die erste, die er fragte, hatte ihn leider gar nicht gesehen, der zweite erwies sich als deutscher Miyazaki-Experte und erklärte dem erstaunten japanischen Journalisten die inneren Zusammenhänge in dessen gesamtem Oeuvre. Schön, dass es die eingeschworenen Fans gibt, aber eigentlich ist Spirited Away ein Film für alle und jeden. Accept Diversity lautet das Motto der Berlinale. Solange aber gut gemeinte Fernsehspiele wie Bloody Sunday das allgemeine Interesse wecken, während der vielleicht größte lebende Meister des Animationsfilms von den Kritikern weitgehend ignoriert wird, gibt es weiß Gott noch eine Menge zu tun. (zusätzliche Informationen) |