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Berlinale Weblog


Samstag, Februar 09, 2002
Hama Maiku / namae no nai mori (Regie: Shinji Aoyama, Japan 2001)
Yokohama Mike / A Forest with no Name
Forum

8 Femmes (Regie Francois Ozon, Frankreich 2001)
Wettbewerb

Wie es der Zufall will, waren die ersten beiden Filme des Tages Krimis, die keine sind.

Shinji Aoyama, der dem deutschen Publikum dank einer einzigen derzeit durch die Republik wandernden Kopie seines vorletzten Films Eureka wenigstens nicht völlig unbkannt ist, nimmt sich mit seinem jüngsten, im Forum als Weltpremiere gezeigten Werk Yokohama Mike – A Forest With No Name das Hardboiled-Genre vor. Yokohama Mike, der Held des Films, wird schon mit den ersten Bildern eher als übersteigertes Zitat oder als Karikatur eines zynischen Detektivs vorgestellt denn als tatsächliches Exemplar eines solchen. Seine Kleidung, sein Verhalten: nichts als Pose. Sein Auftrag, eine vor ihrer Zwangsverheiratung davongelaufene Tochter zurückzuholen: nichts als Inbegriff des Hardboiled-Klischees.

Nach den Titeln, die auf den Vorspann folgen, ist dann aber schon Schluss mit dem klamottigen B-Movie, als das Yokohama Mike beginnt, es geht hinaus aus der Stadt, in unbesiedelte Gegend, in eine klosterartige Kommune. Da befindet sich die Tochter, die Mike zurückholen soll. Er will kurzen Prozess machen, wird aber ganz gegen seinen Willen in die seltsame Atmosphäre der von einem weiblichen Guru geführten Gemeinschaft hineingezogen. Eigennamen sind verboten, die Mitglieder sind schlicht durchnummeriert, es gibt keine Verbindung zur Außenwelt. Rasch beruhigt sich hier auch der Film, die Einstellungen werden länger, Nagase Masatoshi, der Darsteller Mikes, verzichtet auf sein wildes Gestikulieren. Seltsames geht vor, es stellt sich heraus, dass die Mitglieder der Kommune nur aus einem Grund hier versammelt sind: herauszufinden, was sie eigentlich wollen. Bald fühlt sich Mike von einer mysteriösen Frau in Weiß angezogen

Der Detektiv, der auf die Suche nach einer verlorenen Tochter geschickt wird, verliert nicht nur seinen Namen (er wird Nummer 59), mehr und mehr fasziniert ihn das Geschehen um ihn herum, faszinieren ihn die Rätselsprüche der Leiterin. Das Mysterium, das ihm aufgegeben wird wie ein Koan im Zen-Buddhismus, ist ein Baum im naheliegenden Wald ohne Namen, der aussieht wie er. Die profane Ermittlung, mit der der Film begonnen hat, wird unversehens zur Suche nach der eigenen Identität – alles esoterische Brimborium, das man befürchten könnte, wird aber immer wieder konterkariert durch den schrägen Humor und die grobkörnigen, gerade nicht schönen, aller tieferen Bedeutung bar scheinenden Bilder.

Yokohama Mike bleibt für vielerlei Deutungen offen, Aoyama selbst bezeichnet die Kommune als eine Art Flüchtlingslager und die Zone, in die sein Detektiv gerät, als einen Schock-Korridor. Auch an Tarkowskijs (ungleich genauer komponierten) Stalker fühlt man sich erinnert – und wie bei Tarkowskij ist es gerade eine Stärke des Films, dass am Ende vieles rätselhaft bleibt.

Francois Ozon (Unter dem Sand) hat sich für 8 Femmes beim diametral entgegen gesetzten Ende des Krimi-Genres bedient: dem Landhauskrimi britischer Prägung. Mehr als die äußere Struktur wird auch hier nicht vom Genre vorgegeben.

Es gibt eine klare Linie, die von Ozons vorletztem Film Tropfen auf heiße Steine, einem der Publikumslieblinge des Berlinale-Wettbewerbs von 2000, zu seinen 8 Femmes führt. Hier wie da hat er eine dramatische Vorlage streng theatralisch umgesetzt. Und hier wie da wird die Spielhandlung von Musikeinlagen unterbrochen. Genauer gesagt: Tropfen auf heiße Steine hatte eine einzige Tanzeinlage, die geradezu als komischer Schock ins ernste Drama um Begehren und Hass einbrach. In 8 Femmes dagegen gehen dramatische Handlung und Musik beinahe nahtlos ineinander über. Das Theaterstück von Robert Thomas, bei dem sich das Drehbuch – recht frei, wie der Vorspann erklärt – bedient hat, ist ungleich leichtfüßiger als Fassbinder, lotet die Untiefen menschlicher Beziehungen nicht aus, sondern führt sie als boulevardeske Komödie vor.

Der Boulevard mit Gesang hat im französischen Film mittlerweile eine kleine Tradition: von Rivettes hinreißendem Haut Bas Fragile bis zu Resnais On Connait La Chanson. Genau hier reiht sich Ozon ein, in der Künstlichkeit seiner Inszenierung schließt er am dichtesten aber an (gleichfalls) Resnais Ayckbourn-Variationen Smoking/No Smoking an. Ganz und gar Ozon jedoch ist die geradezu mathematische Genauigkeit und Klarheit der Komposition, der einzelnen Bilder ebenso wie der Gesamtanlage. Jeder der acht Frauen, die in einem einsamen Haus im Schnee eingeschlossen sind und sich gegenseitig verdächtigen müssen, den Herrn des Hauses getötet zu haben, ist eine Farbe (im Vorspann sogar eine Blume) zugeordnet – abgezirkelt werden sie im Raum, der eine Bühne ist verteilt.

Unterschiedliche optische Motive lösen sich ab, während im Hintergrund immer wieder Hitchcockfilm-artige Musik läuft. Gesichter werden zu Vignetten im Fenster zusammengeführt, einmal füllt die Kamera die Leindwand reihum mit den Gesichtern der weiblichen Stars, mit deren Image auf einer stets präsenten Sekundär-Ebene gespielt wird. Der Plot selbst, das Krimi-Rätsel, das natürlich eine ungemein überraschende Auflösung erfährt, tut kaum etwas zur Sache. Was Ozon viel mehr interessiert haben dürfte: die schrittweise Auflösung im Chaos, die Aufdeckung der abgründiger und abgründiger werdenden Wahrheiten hinter dem Schein des Wohlsituierten. Um nur einen Eindruck zu geben: Am Ende liegen Catherine Deneuve und Fanny Ardant knutschend am Boden.

Keine Frage: Ozon hat das als Farce inszeniert, keines der Motive, die er durchspielt, hat auch nur ein bisschen Blei an den Füßen. Gefragt ist nicht das Interesse an den Figuren, an etwaiger Psychologie. 8 Femmes ist ein Film vom Reißbrett, aber mit voller Absicht, ein Film, der mit mathematischer Präzision Komödie spielt. Nichts anderes will er sein, ein bei näherer Betrachtung beinahe zerebrales Vergnügen, das die billigen Lacher nicht scheut.



Tagebuch:

Les Sovjets plus l'électricité (Regie Nicholas Rey, F 2001)
Forum

Monster's Ball (Regie Marc Forster, USA 2001)
Wettbewerb


Zu den Erfahrungen, die man auf der Berlinale machen kann und machen sollte, gehört die des abrupten Wechselbads. Eben noch sitzt man im bis fast auf den letzten Platz besetzten Riesen-Saal des Berlinale-Palasts, sieht sich, ob das sinnvoll ist oder nicht, die erste Stunde von Bertrand Taverniers Laissez-Passer an (das beginnt erst mal ganz schwungvoll), verdrückt sich dann - obwohl man die stets erkleckliche Schar der Kritiker, die das in jedem, aber auch jedem Film genauso tut, eigentlich verachtet -, hastet nach einem kurzen Abstecher in die Arkaden, der Nahrungsaufnahme wegen, (übrigens sitzt da der All-About-Lily-Chou-Chou-Regisseur Shunji Iwai direkt neben dem Sushi-Fastfood-Laden und isst Fladenbrot) und gerät dann in eine sehr überschaubare Gruppe von Besuchern, die sich für drei Stunden mit dem jungen französischen Doku- und Experimentalfilmer Nicholas Rey auf eine Reise durch Russland begeben wollen. Als ich nach einer Stunde wieder gehe, sind noch genau zehn Leute übrig. Das kann einem die Berlinale in aller Deutlichkeit vor Augen führen: den Unterschied zwischen dem Mainstream und den absoluten Randbezirken der internationalen Kinematografie, die Ignoranz auch der großen Kritikermeute. Versteht sich von selbst, dass Reys Les Soviets plus l'électricité im Forum läuft

Reys Unternehmung ist, das wird einem schon nach den ersten Bildern klar, alles andere als der Versuch einer möglichst zurückhaltenden Dokumentation des Stands der Dinge in Russland. Er reist von Paris bis nach Sibirien (ich bin in Dnjepropetrowsk ausgestiegen), das wird einem aber nur an der verrauschten Tonspur deutlich. Hier notiert Rey seine Reiseeindrücke in eine Art Tonbandtagebuch, oft, wie es scheint, im Gehen, unterwegs, nicht ausgefeilt, sondern spontan, im Angesicht dessen, was er sieht, was ihm widerfährt. Die Bilder jedoch stehen dazu in krasser Diskontinuität. Sein, erst mal, herrlicher Einfall war es, für seine Aufnahmen altes, im Kühlschrank gelagertes, Sowjet-Super-8-Filmmaterial zu verwenden, dessen Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen ist. Das sieht man dem noch dazu mit 9 Bildern pro Sekunde aufgenommenen Material weiß Gott an: das ist grobkörnig, unscharf, bei Schwenks ins Farbabstrakte verwischt. Zur weiteren Verunsicherung jeglicher Orientierung passen die Bilder nicht zum Ton: man erfährt nicht, wo und wie sie aufgenommen sind, nur manchmal kann man es erschließen. Eine halbe Stunde etwa, nachdem Rey von seinem Besuch im Luna Park von Kiew erzählt hat, bekommt man Aufnahmen von verrosteten Autoscootern, von einem still stehenden Riesenrad zu sehen.

Soviets plus l'électricité ist eine faszinierende, auf die Dauer - wie ich jedoch fand - auch reichlich frustrierende Filmerfahrung, die Banalität der Eindrücke und auch nicht geringe Eitelkeit des Berichterstatters Rey haben mich dann endgültig aus dem Kino vertrieben. Die eine Stunde hat sich dennoch gelohnt - und ist letztlich auch interessanter gewesen als das, was dann folgte, nämlich der im Vorfeld bereits viel gelobte Monster's Ball des aus der Schweiz nach Hollywood geratenen Regisseurs Marc Forster. Die Pressevorführung findet im überfüllten größten Saal des CinemaxX-Kinos statt, ganz oben neben der Einsprechkabine für den französischen Teil des Publikums erlebt man, nach der intendierten Verfremdungserfahrung des Forums-Films, wie sehr einen auch die fremdsprachliche Verdopplung des Textes immer wieder aus dem Takt der filmischen Illusion bringen kann.

Monster's Ball gehört in eine Reihe jüngerer Filme - wie etwa Billy Bob Thorntons Sling Blade oder Sean Penns Dürrenmatt-Verfilmung Das Versprechen -, die mit den Mitteln Hollywoods die Grenzen Hollywoods auszuloten versuchen. Man ist da erst einmal sehr angetan von der provozierenden Langsamkeit der Entwicklung, von der Entschiedenheit, mit der hier zum Beispiel in Sachen Sex über die Weichspül-Konventionen des Hollywoodüblchen hinweggegangen wird. Letztlich aber geht's im Widerspruch gegen die Regeln hier wie in den anderen Filmen immer nur an der Wand lang, nie wirklich ins Freie hinaus, in den Bruch mit der Konvention, der sich gerade an der Grenze, die ausgetestet wird, als notwendig erweist.

Im Grunde ist es bei Monster's Ball bereits der Plot, der nicht zu retten ist. Der Strafvollzugsbeamte Hank, gespielt vom Robert Mitchum unsere Tage, Billy Bob Thornton, ist an der Hinrichtung eines Schwarzen beteiligt; er verliebt sich, durch ein paar vom Drehbuch mehr oder weniger geschickt eingefädelte Zufälle kommt es mehrfach zur Begegnung, in die Witwe. Sie kommen sich näher dadurch, dass beide ihren Sohn verlieren und Hank, der seinen Job an den Nagel gehängt hat, macht eine wundersame Wandlung vom rassistischen Arschloch zum einfühlsamen Liebenden durch. Diese Entwicklung kann auch ein Billy Bob Thornton nicht glaubwürdig darstellen, sie bleibt pure Behauptung des Drehbuchs, wird auch durch die selbstbewusste Inszenierung der Regie nicht schlüssig.

Als Wendepunkt, der aus dem Saulus einen Paulus macht, muss nun ausgerechnet eine wilde Sexszene zwischen Hank und Leticia herhalten, die Forster meist aus gewisser Distanz filmt, einer Distanz, die ohnehin das auffälligste - und sympathische - Stilmittel der Regie ist. Die, mit Verlaub, unsägliche Dialogzeile "Hast du es auch gespürt" soll signalisieren, dass von nun an alles anders ist, dass Fürsorge und Liebe an die Stelle von Hass und Ignoranz treten. Make Love, not War, aber so einfach hatten wir uns das nun auch wieder nicht vorgestellt. Erschwerend hinzu kommt, dass Halle Berry, einst ein Model, mit ihrer derzeitigen Rollenwahl verzweifelt versucht, sich als Ernst zu nehmende Schauspielerin zu etablieren. Also gibt sie eine oscarverdächtige Vorstellung als hysterisierte Schwarze, und das ist nicht als Kompliment gemeint. Mal tobt sie, dann zittert nur die Unterlippe, dann starrt sie ins Leere. Das ist so grässlich geschauspielert, dass sie ihren Oscar schon bekommen wird. Der Wirkung des Films ist es nicht förderlich.


Freitag, Februar 08, 2002
Happy Times (Regie Zhang Yimou)
Wettbewerb (außer Konkurrenz)

Vor ein paar Jahren, es kann nicht anders sein, sind die Aliens gekommen und haben heimlich, still und leise Zhang Yimou, den Regisseur so symbolstarker Meisterwerke wie Das rote Kornfeld oder Rote Laterne gegen Zhang Yimou, den Regisseur ärgerlicher (wie im Falle des vorletztjährigen Berlinale-Beitrags Heimweg) oder bestenfalls belangloser Filme, wie jetzt Happy Times, ausgetauscht. Nicht nur ist seither aller politische Wagemut dahin, es ist viel schlimmer: auch formal macht Yimou nun Filme wie jeder x-beliebige Hollywood-Regisseur.

Happy Times, immerhin, hat eine nette Geschichte, die vielleicht für einen kleinen Fernsehfilm ausgereicht hätte. Ein nicht mehr ganz junger Mann sucht eine Frau und gerät an ein dickes Monster, das sich bald nicht mehr für ihn interessiert, von dem er aber dessen Stieftochter erbt. Sie ist blind und erst soll er ihr einen Job verschaffen in seinem Hotel, von dem er seiner Ex-Ehefrau in spe freilich nur was vorgeflunkert hat. Stattdessen beschließt er, ihr einen Job als Masseuse zu geben in einem Massagesalon, der zwar nicht existiert, dessen Existenz man aber, Methode Potemkin, einer Blinden schon vorgaukeln kann.

In einer aufgelassenen Fabrikhalle staffiert Zhao mit Freunden einen Raum mit einfachen Mitteln aus, die Freunde spielen die Kunden, nur das Trinkgeld ist – zunächst noch – echt, was jedoch Zhao an den Rand des Ruins treibt. Die Moral von der Geschichte – und der Film hat, weiß Gott, eine Moral – ist die, dass das blinde Mädchen – auf Zeit – den fürsorgenden Vater bekommt, den sie immer gesucht hat und Zhao, wenn schon keine Frau, dann eine Tochter. Fast schon wieder schlimm ist es, wie Yimou hier wieder mit dem Holzhammer filmt, die Musik hochfährt an den Stellen, die zu Herzen gehen sollen. Auch sonst aber geht er mit einer Betulichkeit vor, die einem den letzten Nerv raubt.



Beneath Clouds (Ivan Sen, Australien 2001)
Wettbewerb

Australien ist groß, die Wege sind weit. Aber ist das ein guter Grund, eine nette kleine Kurzgeschichte auf Spielfilmlänge auszuwalzen? Genau das nämlich hat der junge australische (Aborigine-)Regisseur Ivan Sen in seinem Debüt versucht. Der Plot lässt sich in zwei Sätzen erzählen: der junge Aborigine Vaughn bricht aus einem Straflager aus, um seine sterbende Mutter in Sydney ein letztes Mal zu sehen und die junge Weiße Lena macht sich auf den Weg eben dorthin, sie sucht ihren Vater. Die beiden begegnen sich am Rande einer der langen staubigen Straßen durch spärlich besiedeltes Gebiet, auf denen sich der Rest von Beneath Clous vor allem abspielen wird.

Ein Roadmovie also. Roadmovies haben den Vorteil, dass die Struktur – man geht oder fährt eben immer weiter – schon mal vorgegeben ist und den Nachteil, dass diese Struktur, dramaturgisch gesehen, eher eine Nicht-Struktur ist. Es geht eben auch immer einfach nur weiter, man begegnet anderen Menschen, mal wird’s gefährlich, mal komisch, das ganze ist beliebig metaphorisch oder spirituell aufladbar. Die Spiritualität hält sich diesmal in Grenzen, leicht Heaven-geschädigt ist man dafür wenigstens dankbar. Jedoch menschelt es um so mehr, die beiden kommen sich näher, diskutieren Rassenfragen und werden am Ende doch zum Symbol der möglichen Annäherung von Schwarz und Weiß.

Über längere, entschieden zu lange Strecken passiert in Beneath Clouds aber fast gar nichts. Sen präsentiert die australische Landschaft in tourismusfreundlich schönen Bildern, hat auch die meist schlicht illustrative Musik ko-komponiert, die beiden Jungdarsteller in ihren ersten Rollen sind gerade in ihrer etwas unbeholfenen Verstocktheit sehr überzeugend. Beneath Clouds ist beileibe kein ganz schlechter Film, für ein Debüt sogar bemerkenswert. Ob man Ivan Sen einen großen Gefallen damit getan hat, ihn gleich in den Wettbewerb der Berlinale zu schicken, das wird man aber fragen dürfen.
(Informationen zu Film und Regisseur)



Donnerstag, Februar 07, 2002
Bungalow (Ulrich Köhler, Deutschland 2001)
Panorama

Nichts passiert - und genau darum geht es. Fast nichts. Am Anfang fliegt, mit dumpfem Knall das städtische Schwimmbad von Bad Sendbach in die Luft, ein Signal, ein Schlag, dem kein weiterer folgt. Stattdessen: eine Stimmung bleierner Unentschlossenheit. Im Mittelpunkt von Bungalow steht Paul, er ist vom Bund abgehauen, man erfährt nicht genau, warum er überhaupt hingegangen ist, man erfährt nicht genau, warum er gerade jetzt desertiert, jedenfalls zieht er sich in den Bungalow seiner Eltern, die im Italienurlaub sind, zurück. Legt sich erst mal aufs Bett und masturbiert.

Er bleibt nicht lange allein, noch bevor die ersten Feldjäger auftauchen, schaut erst mal seine Freundin vorbei und erklärt ihm, sie sei nach den Monaten seiner Abwesenheit seine Ex-Freundin, dann stehen plötzlich sein Bruder und dessen dänische Freundin Lene vor der Tür. Auch sie wollen die nächsten Tage im Bungalow verbringen. Damit ist das Viereck, zwischen dem sich nun die Bindungen und Abgründe auftun werden, komplett. Paul, der antriebslos durch die Gegend schlurft, verliebt sich in Lene; Max, Pauls Bruder, kann nicht begreifen, was mit Paul los ist. So recht begreiflich ist es nicht und doch wird diese Figur im Laufe des Films vollkommen schlüssig. Man spürt, dass hier alles stimmt (und mit formaler Strenge inszeniert ist), jedes Detail in den Bewegungen, im Tonfall, im Verhalten.

Bungalow erzählt nichts weiter als von den paar Tagen im Bungalow. Paul scheint immer weiter außer Kontrolle zu geraten, ständig streitet er sich mit seinem Bruder, seine Ex-Freundin kehrt zurück, man geht in die Disco. Mehr passiert nicht, jedenfalls keine großen Wendungen oder dramatischen Ereignisse. Stark ist Bungalow aber darin, diesen wenigen Tagen in Pauls Leben ohne alle Aufdringlichkeit eine große Gültigkeit zu geben. Die Tage im Bungalow, seltsam aus der Zeit gefallen, aus der Kontinuität dessen, was hinterher eine Biografie ergeben wird, taugen zur Metapher für eine Lebensphase der Unentschlossenheit, aber auch der Sehnsüchte und der Unfähigkeit, den Erwartungen und Ansprüchen zu entsprechen, die keinem (und in der hier gezeigten Weise vor allem den Jungs) ganz fremd sein dürfte. Ulrich Köhler hätte das alles noch ein klein wenig präziser auf den Punkt bringen könne, gelegentlich hängt Bungalow ein bisschen zu sehr durch. Auch das Ende überzeugt in seiner aufdringlichen Ambivalenz nicht. Dennoch: ein sehr gelungenes Debüt.


Erster Favorit für Edelmetall

Im Herzen Amerikas: "Monster's Ball"
Wettbewerb

Von Günter H. Jekubzik

Berlin. Kaum zwei Tage alt hat der Wettbewerb der 52. Internationalen Filmfestspiele Berlins schon seinen ersten Favoriten. Für die der Saison gemäßen Frage "Gold, Silber oder Bronze?" wird seit gestern der amerikanisch-schweizer Film "Monster's Ball" heiß gehandelt.

In der vielen Kinos rund um den Berlinale-Palast im Neubauviertel Potsdamer Platz breitet sich Begeisterung aus, wenn der Titel "Monster's Ball" genannt wird. Unter den Kritikern war der Hauptdarsteller Billy Bob Thornton ("Sling Blade", "The man who wasn't there") schon immer ein Liebling. Und die Rolle des schweigsamen Amerikaners Hank, der die Familientradition rassistischer Henker durchbricht, ist wie für ihn geschrieben. Dabei kam die Story durch den Einsatz des Schweizer Regisseurs Marc Foster auf die Leinwand: Den Produzenten verkaufte er den Stoff für nur 4 Millionen Dollar und erhielt aufgrund dieses Dumping-Preises alle Freiheiten. Allerdings sieht die Berlinale doch die längere Version - für die prüderen Amerikaner wurde eine Sexszene beschnitten.

"Monster's Ball" versammelt mit Gewalt gesättigte Männer. Die Atmosphäre ist vom Hass zwischen den Generationen, den Geschlechtern und den Hautfarben angefüllt. Hank steht mitten in drei Generationen von Henkern: Der Vater war noch 'stark', der Sohn ist schon 'zu schwach'. Das führt zu radikalen Veränderungen nachdem Hank ungeliebter Zögling sich vor einer Hinrichtung im Staatsgefängnis übergibt. Am Ende sind drei Menschen tot, Hank sitzt mit der schwarzen Frau Leticia (Halle Berry), deren Mann er zum elektrischen Stuhl führte, auf der Veranda und liest die gemeinsame Zukunft aus den Sternen.

Diese Schlussszene ist Atem beraubend wie der ganze Film. Der namensgebende "Monster's Ball" soll in "besseren Ländern" von den Gefangenen vor einer Exekution gefeiert werden - so erzählt ein zynischer Henker. Man kann für den besondern Films ködern, indem man verrät, dass der Henker und die Witwe eine leidenschaftliche Beziehung beginnen werden, doch die Qualitäten des packenden und sensiblen Werkes liegen anderswo. In knappen, aussagekräftigen Szenen werden vergiftete Familienverhältnisse skizziert, ohne dass übliche Wege beschritten werden. Sozial und psychologisch sehr exakt, in der Anlage wie eine griechische Tragödie und gleichzeitig fast märchenhaft utopisch - dieses Kunstwerk gelang Marc Foster.



Site (Jason Kliot, USA 2001)
Wettbewerb (Kurzfilm)

Bridget (Amos Kollek, Frankreich/Japan 2001)
Wettbewerb

Site, der einzige Beitrag des Festivals, der sich unmittelbar auf den 11. September bezieht, tut acht Minuten lang nur eines: er zeigt Bilder von Menschen, die die Ruinen der Twin Towers betrachten. Sie weinen, sie telefonieren, sie sprechen miteinander. Nicht einmal sieht der Zuschauer, was die Augen der gezeigten Personen sehen. Diese Verweigerung des Bildes, der Bilder, die wir zur Genüge kennen, ist ein kluger Zug des Films. Er reflektiert auf das, was sich der angemessenen Darstellung entzieht. Seine Geste des Blicks in den Spiegel der Gesichter könnte eine offen ausgestellte Geste der Sprach- und der Hilflosigkeit sein.

Erstaunlicherweise aber will Regisseur Jason Kliot genau auf das Gegenteil dieser Reflexion hinaus. Er sakralisiert die Trauer – und zwar durch die den Bildern unterlegte Musik. Wer gestern Tom Tykwers Heaven gesehen hat, musste denken, er hört nicht recht, denn wiederum ertönen die intensiven Streicher- und Klavierklänge von Arvo Pärt und wiederum sollen sie den Bildern eine Weihe verleihen, die sie (und hier muss man unbedingt sagen: zum Glück) nicht besitzen. Im Fall von Site ist das jedoch fatal: alle Reflexion wird mit der Sakralisierung der Trauer, der Sprachlosigkeit stillgestellt, auf einem Klangteppich ausgebreitet, der auf nichts weiter als Pathos abzielt.

Was in Site verschwiegen und ausgeklammert wird, das New Yorker Leben, das weiter geht, bekommt man in Bridget umso reichlicher, vielleicht überreichlich geboten. Natürlich ist Bridget, die x-te Zusammenarbeit von Regisseur Amos Kollek mit seinem Star Anna Thomson, vor dem 11. September entstanden (einmal sieht man auch noch die Twin Towers im Hintergrund), natürlich kann und sollte man den Film nicht als Kommentar zum Terror lesen, aber gerade die Lust am Alltag, die Respektlosigkeit des Films, lässt angesichts des vorangestellten Weiheappells erst einmal Erleichterung aufkommen.

Nicht dass die Geschichte, die Amos Kollek erzählt, nicht wüst wäre. Schon nach fünf Minuten ist Bridget von einem Auto überfahren, ihr Sohn in Fürsorge genommen und eine Freundin in einem bizarren Liegestützenwettbewerb abgeknallt worden. Nicht zu vergessen: man hat gerade ihren Mann erschossen. Damit ist der Grundstein für weitere, hier gewiss nicht im einzelnen aufzuzählende Entwicklungen gelegt, einen wahren Hindernisparcours, den Anna Thomson diesmal mit Bravour und Entschlossenheit meistert. Von grotesker Komik und dann doch schon fast ein schwarzhumoriger Kommentar zur Situation im Nahen Osten ist ein kurzer Ausflug Bridgets als Drogenkurier nach Beirut. Das ist natürlich nicht so recht Ernst zu nehmen – und auch gar nicht allzu Ernst gemeint. Bridget ist nicht mehr als eine mitunter böse Komödie mit Happy End, auf jeden Fall aber ein sympathischer Film.



Bloody Sunday (Paul Greengrass, GB 2001)
Wettbewerb

Dieter Kosslick hatte verkündet, mit der Berlinale auch politische Zeichen setzen zu wollen. Schon die erste Geste in Gestalt des auf alle Plakate gesetzten frommen Wunsches „accept diversity“ konnte einen skeptisch stimmen, was das Politikverständnis der Auswahlkommission anging. Bloody Sunday, dem Film des Briten Paul Greengrass, hatte Kosslick bereits in der Eröffnungspressekonferenz die Bürde aufgeladen, die politische Botschaft des Festivals auf den gemeinsamen Nenner zu bringen. Schon da durfte man befürchten, dass diese Botschaft von der Sorte ist, die man besser mit der Post schickt. Leider muss man sagen: so kam es.

Greengrass erzählt von einem der schwärzesten Tage Nordirlands, dem Sonntag im Jahr 1972, an dem ein friedlicher Protestmarsch der Bürgerrechtsbewegung von Londonderry von britischen Fallschirmjägereinheiten blutig niedergeschossen wurde. Er teilt seinen Film in drei Akte. Der erste umfasst die Vorbereitungen auf beiden Seiten, auf der Seite des Militärs und auf der der Protestierenden. Die Protagonisten werden vorgestellt, vor allem auf eine Identifikationsfigur läuft der Film zu: den nordirischen Politiker Ivan Cooper, der im zweiten Akt, der die Kämpfe zeigt, eine Rede hält, die die Botschaft des Films bündig zusammenfasst. Gandhi und Martin Luther King sind die leuchtenden Vorbilder. Im dritten Akt sieht man die Folgen des Massakers, sprachloses Entsetzen auf der einen, mangelndes Schuldbewusstsein auf der anderen Seite.

Nun wird man der politischen Haltung des Films kaum widersprechen wollen, ja, die Aufarbeitung des geschichtlichen Unrechts begrüßen. Dennoch bleibt es wahr, dass die Politik des Kunstwerks in der Ästhetik zu stecken hat und nirgends sonst, dass sich ein Film weder über sein Thema allein noch durch seine aufrechte Haltung als würdiger Wettbewerbsbeitrag erweist. Ästhetisch jedoch ist „Bloody Sunday“ ein Musterknabe an Unbedarftheit. Die Absicht des Regisseurs war es wohl, auf alle Zurichtung durch private Geschichten zu verzichten (einen ersten Ansatz dazu lässt er inkonsequenterweise sofort ins Leere laufen), den Betrachter nicht durch Emotionen zu manipulieren. Das immerhin ist ihm gelungen, das einzige Gefühl, das er zu wecken vermag, ist bleierne Langeweile.

Filmsprachlich setzt „Bloody Sunday“ ganz auf die Anmutung des Dokumentarischen. Wild fuchtelt die Handkamera durch die Gegend, immer schön abwechselnd im Lager der Demonstranten und der Militärs. Wenn die Kamera mitten drin ist, so vermutlich die Idee, wird sich auch der Betrachter aufs Schlachtfeld versetzt fühlen. Leider geht diese schlichte Rechnung nicht auf. Zu durchschaubar ist die Absicht jeder Einstellung, ohne jeden Mehrwert, ohne jede Brechung ließe sich jede Szene in einen simplen Aussagesatz übertragen. Ivan Cooper ist ein aufrechter Mann. Der Einsatz des Militärs ist töricht und barbarisch. Hier werden Unschuldige getötet. Gewalt ist böse.

Das nächste Mal, wie gesagt, lieber mit der Post.





Mittwoch, Februar 06, 2002
Heaven (Tom Tykwer, Deutschland, USA 2001)
Wettbewerb
Termine: 6.2. 18:30 Berlinale-Palast / 7.2. 15:00 Royal-Palast / 7.2. 18:30 Royal-Palast / 7.2. 22:30 International

Tom Tykwer ist in seinen bisherigen Filmen (Lola rennt, Der Krieger und die Kaiserin) ein exzellenter Regisseur oft hanebüchener Drehbücher gewesen, die leider, das macht das Lob so zweischneidig, auch von ihm selbst stammten. Mit "Heaven" hat er nun erstmals eine fremde Vorlage verfilmt - wenngleich eine gewisse weltanschauliche Nähe zwischen dem freischwebenden Metaphysiker Tykwer und dem Katholiken Kieslowski sofort einleuchtet. Tykwer selbst bestätigte das auf der Pressekonferenz ohne Zögern. Auf dem Gebiet von "Heaven" kenne er sich aus. Und auf Nachfrage beschrieb er sich selbst als "spirituellen Atheisten".

Pressekonferenz zu Heaven
Pressekonferenz zu Heaven

"Heaven" zerfällt in zwei Teile, von denen der erste besser ist, als man denken sollte, und der zweite schlechter, als er sein müsste, um das spirituelle Gewicht zu tragen, das den Figuren wie der Geschichte darin aufgebürdet wird. Alles beginnt mit einer Bombe, die ihr Ziel nicht trifft. Filippa Paccard, die einen Drogendealer vernichten wollte, hat vier Unschuldige getötet. Diese Schuld ist das Trauma, auf das der Rest des Filmes antwortet. Es geht um Filippas Erlösung durch die Kraft der Liebe. Die trifft, auf den tykwer-typischen ersten Blick und aus heiterem Himmel, den als Übersetzer während des Verhörs anwesenden Carabiniere Filippo (man achte auf die Namen), der ihr zur Flucht und gar noch zur Rache verhilft. Bis dahin ist "Heaven" ein atmosphärisch dichter Psycho-Thriller, der seine stärksten Momente am Anfang hat. Im bewussten Verzicht auf den Knalleffekt lässt Tykwer die Bombe außerhalb des Kamerabereichs explodieren, man sieht nur, das vielleicht eindrücklichste Bild, einen Riss, der sich durch die Leinwand zieht.

Dann aber wechselt der Film, vielleicht nicht ganz abrupt, aber doch deutlich, das Register. Schon wenn der Zug, mit dem die beiden aufs Land flüchten, aus einem Tunnel auftaucht und im Voice-Over-Dialog von Geburt die Rede ist und sich unmittelbar danach herausstellt, dass Filippos Geburtstag der Tag von Filippas Erstkommunion war, muss einem klar werden: wir sind ab sofort auf hoch symbolischem Gelände. Für den Rest des Films geschieht nicht mehr viel, die Geschichte der zwei - nun doch - Liebenden wird mehr und mehr zum Vorwand für visuelle und metaphysische Symbolik. Alles endet, ganz ungelogen, mit einer veritablen Himmelfahrt per Helikopter; die gewagteste, pathetischste und, da in ihrer unbeholfenen Aufdringlichkeit misslungen, auch peinlichste Einstellung liegt kurz davor: die geschlechtliche Vereinigung, oder vielleicht sollte man gleich Kommunion sagen, Filippos und Filippas, als Schattenriss unterm großen Baum, zu dem man sich (wiedergewonnenes Paradies etc.) viel denken kann, besser aber nicht denken sollte.

Kein Wunder, dass auf der Pressekonferenz einiger Weihrauch geschwenkt wurde. Vor allem aber erfuhr man, dass womöglich eine Fortsetzung des Weihefestspiels ins Haus steht. Geplant war von Kieslowski wie Piesiewicz eine Trilogie: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Die deutsche Produktionsfirma X-Filme denkt, laut Tom Tykwer, über die Verfilmung der beiden anderen, von Piesiewicz inzwischen zu Novellen ausgearbeiteten Teile nach.


Dienstag, Februar 05, 2002
Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

Tom Tykwer: Heaven (Deutschland, USA 2001)
WettbewerbTermine: 6.2. 18:30 Berlinale-Palast / 7.2. 15:00 Royal-Palast / 7.2. 18:30 Royal-Palast / 7.2. 22:30 International

Heute Abend haben die 52. Internationalen Filmfestspiele Berlins ihre feierliche Eröffnung - endlich wieder mit einem gelungenen Film. Die erste Berlinale des neuen Festivalchefs Dieter Kosslick wird besonders kritisch beäugt werden. Doch mit "Heaven", dem neuen Film von Tom Tykwer, hat der ehemalige Leiter der Filmstiftung NRW einen ersten Trumpf ausgespielt: Ein irgendwie auch deutscher Beitrag, mit internationalen Stars besetzt und die beste Berlinale-Eröffnung seit langem.

Endlich mal gab es kein prätentiöses Ärgernis wie das Stalingrad-Opus "Duell" im Vorjahr, einen bemühten Gutmenschen-Film wie "Aimée und Jaguar" oder eine lieblose Literatur-Verhunzung wie "Fräulein Smilla". Wer allerdings besonders viel von Tom Tykwers erstem internationalen Film erwartet hat, könnte enttäuscht sein.

Tykwer startet in Turin mit einer hoch spannenden Mischung aus einer Bombe, "unschuldigen" Kindern und einer unauffälligen Putzfrau. Am nächsten Tag muss die verhaftete Attentäterin Philippa (Cate Blanchett) erfahren, dass nicht der Drogenbaron sondern vier unbeteiligte Menschen Opfer ihrer Bombe wurden. Der Schock, ihre Verzweiflung rühren den jungen Carabiniere Filippo (Giovanni Ribisi), der während des Verhör übersetzt. Aus Liebe und anderen schwer erklärbaren Motiven befreit der Polizist die zerbrechliche Frau. Es geht hinaus in wunderbare italienische Landschaften und die Flucht führt letztendlich in den offenen Himmel des Titels.

Zwischen den Zeilen des vor allem im zweiten Teil ungewöhnlichen Films erkennt man immer wieder den verstorbenen Regisseur Krzysztof Kieslowski ("Drei Farben: Rot") mit seinen zynischen Schicksalsspielen. Vom Polen stammte das Drehbuch, dem Tykwer weit gehend gefolgt ist.

Deutsche Eröffnungsfilme haben auf der Berlinale eine eher unrühmliche Tradition. Zu bemüht, zu brav zeigten sie oft nicht mehr als lobenswerte Haltungen und akzeptables Handwerk. Tom Tykwer hat sich mit "Tödliche Maria", "Winterschläfer", "Lola rennt" sowie "Der Krieger und die Kaiserin" als bester und innovativster deutschen Regisseur seiner Generation erwiesen. Vor allem zu Anfang von "Heaven", in der Turiner Untersuchungshaft, sind jedoch wenig auffallende Bildideen zu sehen. Tykwer hält sich zurück, damit die folgende Flucht in die Freiheit um so wirkungsvoller wird. Recht und Gerechtigkeit werden hier nicht mehr diskutiert, fast paradiesisch lieben sich die in ihren Namen schon so nahen Philippa und Filippo unter einem schützenden Baum. Bemerkenswert, wie still "Heaven" oft ist, Geräusche der Stille bestimmen in vielen Szenen die Atmosphäre.

Damit hat nicht nur Kosslick, dessen Filmstiftung NRW den Film noch förderte, einen hervorragenden Eröffnungszug gemacht, auch "Heaven" setzt direkt einen Maßstab für den Wettbewerb der Berlinale, der mit 22 weiteren Filmen die nächsten zehn Tage bestimmen wird. Am 21. Februar startet "Heaven" in den deutschen Kinos.
(Weitere Infos zum Film)



Von zwei Filmen, einer Panorama, einer Forum, ist dringend abzuraten:

Hisashi Saito: A Painful Pair (Itai Futari; Japan 2001)
Panorama
Termine: 10.2. 22.30 Uhr CinemaxX 7 / 11.2. 14.45 Uhr CineStar 3 / 12.2. 13.00 Uhr CineStar 3

Ein junges Ehepaar ist sich so nahe, dass sie der eine jeden Schmerz des anderen spüren, von Ohrfeigen bis hin zu S/M-Peitschenhieben. Der Film weiß mit seiner Prämisse rein gar nichts anzufangen, ist psychologisch haarsträubend unglaubwürdig, verzettelt sich in noch dämlicheren, ganz und gar unmotivierten Nebenhandlungen. Eines jener Stücke unsäglich dilettantischen Filmemachens, die aus nicht erklärlichen Gründen immer wieder ihren Weg ins Berlinale-Programm finden.

Ho Ping: The Rule of the Game (Wa dong ren; Taiwan 2001)
Forum
Termine: 8.2. 19.00 Uhr Delphi / 9.2. 12.30 Arsenal / 9.2. 18.15 CinemaxX 3 / 10.2. 220.00 Uhr Babylon

Vergeblicher Versuch, Pulp Fiction nachzueifern: mehrer Killer kommen sich ins Gehege, ein tiefes Loch im Wald wartet auf eine Leiche und zwei kriminelle Volltrottel nerven mit dämlichen Dialogen. Mal wieder ein Regisseur, der nichts vom Witz und der Raffinesse des Vorbilds begriffen hat und nach einem viel versprechenden Auftakt nur noch heftige Langeweile erzeugt.




Montag, Februar 04, 2002
Hideo Nakata: Dark Water (Honogurai mizuno sokokara); Japan 2001
Panorama
Termine: 7.2. 21.30 Uhr Zoo-Palast / 8.2. 14.00 Uhr CinemaxX 7 / 10.2. 17.00 Uhr International
(*** von *****)

Groß waren die Erwartungen an Hideo Nakatas neuen Horrorfilm, nachdem sein Blockbuster The Ring völlig unerwartet dem ganzen Genre einen neuen Schub gegeben hatte. Die Sequels, Quasi-Sequels, Quasi-Remakes etc. kann man kaum noch überblicken - und dieses Jahr wird auch das US-Remake mit keiner geringeren als Naomi Watts, dem neuen Star aus Mulholland Drive, in der Hauptrolle in die amerikanischen und wohl auch deutschen Kinos kommen.

Leider ist Dark Waters (auch hier sind die Remake-Rechte bereits an die USA gegangen), um es kurz zu machen, eine Enttäuschung. Wiederum, wie bei The Ring, hat Nakata eine Vorlage (mehrere Kurzgeschichten) des Autors Koji Suzuki verfilmt - was man vermisst, ist jedoch der leiseste Hauch von Originalität. Dark Waters ist kaum mehr als eine bloße Variation der vorhandenen Horror-Muster. Erfreulich ist es erst einmal, dass Nakata aus seiner Erfolgsspur auszubrechen versucht und diesmal nicht Teenager ins Zentrum stellt, sondern eine alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter im Kindergartenalter. Der Hintergrund der Geschichte ist ein sich hinziehender Sorgerechtsstreit um das Kind, die Mutter gerät, auf der zeitraubenden Suche nach einer neuen Wohnung und einem neuen Job, vor der zuständigen Behörde in Bedrängnis.

Umstandslos wie eher selten im Genre ist der heraufziehende Horror die Manifestation einer klar benennbaren Angst: nämlich der Mutter vor dem Verlust der Tochter. Der Geist, der erscheinen wird, ist der eines wegen Vernachlässigung tödlich verunglückten Kindes, das in der Wohnung über dem gerade neu bezogenen Apartment von Mutter und Tochter gelebt hat. Ein ominöser Wasserfleck an der Decke ist das erste Symptom der sich bald ausweitenden Erscheinungen (das Motiv ist im übrigen auch in der Darstellung fast identisch mit dem in Tsai Ming-liangs ganz anders geartetem Film Der Fluss), Wasser stürzt als zentrales Motiv bereits in den ersten Einstellungen vom Himmel, am Ende strömt und schwallt und sprudelt es, erwartbar, allüberall.

Die Schocks, die meist ans schaurige Leitmotiv einer roten Kindertasche geknüpft werden, setzt Dark Waters kompetent, mehr nicht. Die Schlinge zieht sich zu, auf beiden Ebenen der Verlustangst: der Vater gewinnt Boden und der Schauer aus dem Appartment im oberen Stockwerk Überhand. Auf einen Moment der Beruhigung und scheinbaren Befriedung folgt der Schlussakt, mit vermehrten und immer manifesteren Auftritten des toten Kindes, mit nochmals verstärkter Wasserproduktion. Auch auf der Tonspur tut sich nur Altbekanntes, ein Horrorscore der zwar mal für mal wirksamen, aber höchst vertrauten Art.

Geschickt gewählt ist, immerhin, der Schauplatz, eine gesichtslos-hässliche Beton-Mietskaserne, deren lange Gänge schummrig und von real existierenden Bewohnern unbevölkert bleiben. Angenehm fällt die Sorgfalt auf, mit der Nakata Atmosphäre zu erzeugen versucht, die Ruhe, mit der er Situation und Schauplätze etabliert. Sichtbar zielt er nach der Innovation, die The Ring war, hier auf Klassizität. Auf originelle Wendungen und sonstige Überraschungen hätte er dafür freilich nicht verzichten sollen.


Shunji Iwai: All About Lily Chou-Chou; Japan 2001
Panorama
Termine: 6.2. 20.00 Uhr CinemaxX 7 / 7.2. 20.15 CineStar 3 / 8.2. 20.15 Uhr CineStar 3 / 9.2. 11.30 Uhr CineStar 3
(**** von *****)

Erstaunlich, wie wenig All About Lily Chou-Chou zu tun scheint, was der Film, alles in allem, sehr virtuos tut: eine Geschichte erzählen. Die Bilder wirken wie Fundstücke aus den Leben, in die sie einen Einblick geben; die Komposition drängt sich (weiß Gott) nicht in den Vordergrund, tritt man aber ein Stück zurück, merkt man, wie sich alle Geschehnisse um ein Zentral- und wenige Nebenmotive gruppieren. Das Zentralmotiv ist das des tyrannischen Cliquendrucks unter Jugendlichen, der zu seelischer und auch körperlicher Bestialität führt. Als Nebenmotive bringt Iwai, auf den ersten Blick ganz genre-konform, erste, schwierige Lieben, gemeinsame Ausflüge und Schulprobleme ins Spiel. Weniger ein Motiv als der Hintergrund, vor dem der Rest in Szene gesetzt wird, ist die Titelfigur, die nie persönlich auftritt, um deren Musik aber ein nicht geringer Teil der Gespräche kreist: Lily Chou-Chou, eine (fiktive) Pop-Ikone.

Gespräche ist freilich irreführend: es sind kurze Sätze aus Internet-Chats, die Iwai als Buchstaben-Bilderbeat unter seinen Film legt, Sätze, die um den mysteriösen Äther kreisen, dem sich Lily Chou-Chous Genie verdanken soll. Kompletter Blödsinn also - und darin nicht nur realistisch, sondern, dank der Entstehungsgeschichte des Films sogar ganz authentisch. Begonnen hat Iwai das Projekt als interaktiver Web-Roman, der nach und nach und unter heftiger Mitwirkung der Besucher entstehen sollte; das Projekt wurde abgebrochen, aber viele der Chat-Zeilen sind direkte Inputs der Website-Bsesucher. Im Film werden sie nun zu Material, aus dem Iwai die zentrale Beziehung seiner Geschichte modelliert, die in Tyrannei umschlagende Freundschaft zwischen dem schüchternen Yuichi und dem vom Musterschüler zum brutalen Cliquen-Anführer sich entwickelnden Oshino.

Beide führen ein Doppel-Leben, das reale und das virtuelle (und das eine weiß, ein bisschen wie bei Lubitschs Rendezvous nach Ladenschluss, nichts vom anderen; nur dass das hier die tiefschwarze Variante ist), für beide Leben führt Iwai Bilder vor: auf der einen Seite die Chat-Zeilen vor schwarzem Hintergrund, als zusätzlicher und verstärkender Schnitt ins Abbildungs-Bilder-Gewebe die nervös aufblitzenden Reload-Signale, die auf jeden neuen Eintrag folgen. Andererseits die von einer hochauflösenden digitalen Videokamera in satten und sehr schönen Fehlfarben aufgenommenen Szenen, die die Jugendlichen in ihrem Alltag zeigen. Die Schönheit der oftmals leicht taumeligen Bilder wird dabei von der abgrundtiefen Bösartigkeit der Handelnden konterkariert. Yuichi, ein geborenes Opfer, sucht Anschluss an den als vermeintlicher Streber ausgegrenzten Oshino. Tatsächlich kommen sie sich näher, machen mit Freunden einen Abenteuer-Urlaub auf Okinawa.

Diesen Urlaub filmt Iwai als Homevideo, verwackelt, ziel- und belanglos, urplötzlich und unvorbereitet aber kommt es zu zwei traumatisierenden Ereignissen: Oshino ertrinkt um ein Haar und ein Mann, den die Reisegruppe auf der Insel kennengelernt hat, gerät vor ein Auto. Danach ist Oshino wie verwandelt. Die Art dieses Umschlags ist typisch für den Film, das Schockerlebnis ist die fast nur symbolische Erklärung für die Veränderung. Der Film argumentiert nie psychologisch, das Verhalten der Figuren bleibt erratisch, oft schwer verständlich, ist nicht recht in eine vernünftige Kontinuität zu bringen. Redundanzen und Phasen, in denen buchstäblich nichts passiert (auch dem geduldigen Betrachter wird's da gelegentlich zu viel) stehen plötzliche Ein- und Ausbrüche von Gewalt und Tempo gegenüber - und seltsamerweise gibt gerade dieses Hin und Her dem Film einen klaren Rhythmus. Und was als blinder Pfad erscheinen mag, wird stets zurückgebunden an die wenigen wichtigen Motive des Films, der eher unerwartet noch auf einen letzten Höhe- und Schlusspunkt zusteuert und die beiden Hauptfiguren bei einem Konzert von Lily Chou-Chou ein letztes Mal aufeinandertreffen lässt.

Eine der großen Stärken des Films ist es, dass ihm nicht auf die Stirn geschrieben steht, was er eigentlich will. Ein Porträt japanischer Jugendlicher von heute ist er genauso wie eine zwischen Mystizismus und Schocks pendelnde Meditation über Musik und Sehnsüchte; manchmal ein Bildergedicht; manchmal selbstgefällig, manchmal atemberaubend. Wer die Geduld aufbringt, sich auf All About Lily Chou-Chou einzulassen (der Film macht es einem nicht immer leicht), darf sich auf ein faszinierendes Film-Erlebnis gefasst machen.
(Jump-Cut-Kritik)




Kazama Shiori: The Mars Canon (Kasei no Canon); Japan 2001
Forum;
Termine: 12.2. 21.30 Uhr Delphi / 13.2. 10.00 CimenaxX3 / 13.2. 14.45 Uhr Arsenal / 14.2. 19.00 Uhr Babylon
(**** von *****)

Am Anfang gibt es nichts und niemanden als Kohei und Kinuko, das Liebespaar, zweisam vereint in freier Natur, keine Menschen und keine Grenzen in Sicht. Kazama Shiori lässt dieses Bild lange stehen, der Dialog scheint der zweier Liebender, bis Kohei zum Aufbruch mahnt: es ist Sonntag, nicht Dienstag. Das Idyll, zeigt sich schnell, hat getrogen: Kohei hat eine Frau und ein Kind, nur dienstags hat er Zeit für Kinuko, sie treffen sich im Hotel, nie bei ihr zu Hause, für jede weitere Begegnung muss Kohei sich aus seiner Familie, die er nicht aufgeben will, davonstehlen.

Kinuko redet sich ein, dass sie nicht einsam ist, nicht unglücklich, geht ihrer Arbeit in einem Reisebüro nach, weiß sich gegen das Geschwätz der Kollegin zur wehren; da begegnet sie Hijiri, einer ehemaligen Arbeitskollegin und deren Freund - nicht Liebhaber - Manabe. Der hat es auf Kinuko abgesehen, aber, wie sich bald und in einem völlig schlüssigen Nach und Nach zeigt: nicht alleine. Hijiri kümmert sich um Kinuko, als sie sich erkältet, ja, sie zieht in die freie Nachbarwohnung. Sie entführt sie auf das Dach eines Wolkenkratzers, sie haben einen wunderbaren Abend, bis Hijiri Kinuko ihre Liebe gesteht.

Kazama Shiori lässt ihren Figuren viel Zeit, schenkt ihnen Einstellung um Einstellung, ohne dass viel passiert, leichte Verschiebungen der Nuancen, minimale Annäherungen und Veränderungen, das alles ohne dass irgendwas erklärt, ohne dass mehr als das nötigste geredet werden muss. Schnell ist man hingerissen von der scheinbaren Absichtslosigkeit der Inszenierung, die sich unversehens doch immer wieder zu überaus prägnanten Tableaus verdichtet: die Anfangseinstellung in der Natur; Kohei und Kinuko beim Tischtennisspiel auf einem verunglückten gemeinsamen Urlaubsausflug; eine Annäherung über die Balkontrennwand hinweg.

Nichts ist symbolschwer an den klaren Einstellungen des Films, nichts wirkt gesucht - und doch gelingen Shiori ein ums andere Mal höchst prägnante Bilder von unaufdringlicher Genauigkeit. Selten nur benötigt sie dafür Close-Ups (einmal etwa auf die Hände der Liebenden), arrangiert die Figuren halbnah in den liebevoll ausgestatteten Innenräumen. Auf ihre vier Hauptdarsteller kann sie sich dabei blind verlassen, sie wahren die richtige Balance zwischen Offenbarung und Bewahrung ihrer Gefühle, ihrer Beweggründe, ihrer Gedanken. Die Wendungen der Geschichte sind so niemals vorhersehbar, immer wieder stehen verschiedene Wege als in der Logik der Figuren gleich mögliche offen. Kein Wunder, dass Shiori noch ein ambivalentes, gerade darin höchst einleuchtendes Ende gefunden hat.

(Jump-Cut-Kritik)